Gedenken an die 96 Opfer der Katastrophe in Hillsborough im April 2015
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Chronik

Der lange Schatten von Hillsborough

Beim Stadion an der Anfield Road, Heimstätte des englischen Topclubs Liverpool, steht ein Denkmal für die Opfer der Hillsborough-Tragödie. Das ganze Jahr über ist es mit Blumen, Kränzen und Bildern dekoriert. In diesen Tagen sind es besonders viele. Denn am 15. April 2019 jährt sich das Unglück, in dessen Folge 96 Menschen ihr Leben verloren, zum 30. Mal.

„Jeder in der Stadt kennt jemanden, der in Hillsborough war und dem etwas passiert ist“, sagt der an der Merseyside lebende Luke Daly zu der Katastrophe, die sich 1989 im Stadion von Sheffield Wednesday abspielte. „Liverpool war schon immer eine Stadt, in der die Menschen sehr stark zusammengehalten haben. Durch Hillsborough hat sich das damals noch verstärkt.“

Die Katastrophe von Sheffield hatte weitreichende Konsequenzen für den englischen Fußball. Nach einer von der Regierung eingeleiteten Untersuchung der Situation in den Stadien auf der Insel unter der Leitung von Peter Murray Taylor, dem Baron von Gosforth und dem folgenden „Taylor Report“ wurden Stehplätze und hohe Sicherheitszäune aus den Stadien verbannt.

Verhängnisvolles Gedränge

Was am 15. April 1989 eigentlich ein Fußballfest werden sollte, wurde zur schlimmsten Katastrophe der britischen Sportgeschichte. An einem Samstagnachmittag war um 15.00 Uhr das FA-Cup-Semifinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest angesetzt. Die Fans waren angewiesen worden, eine Viertelstunde vor Spielbeginn auf ihren Plätzen zu sein, doch beim Anpfiff standen viele Zuschauer noch vor dem Hillsborough-Stadion.

Die Katastrophe von Hillsborough am 15. April 1989
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Überforderte Polizei: Nach dem tödlichen Gedränge auf der Tribüne herrschte auch auf dem Rasen Chaos

Die Anfrage eines anwesenden Polizeibeamten über Funk, das Spiel später anzupfeifen, fand kein Gehör. Während der Ball bereits rollte und der Lärm aus dem Stadion nach draußen drang, drängten sich Tausende Fans an den Eingängen. Dann traf der verantwortliche Polizeieinsatzleiter David Duckenfield eine folgenschwere Entscheidung: Er ließ zusätzliche Tore öffnen. Über 3.000 Zuschauer stürmten daraufhin eine Tribüne, die nur für 1.600 Menschen vorgesehen war. Bereits anwesende Fans wurden gegen die hohen Zäune gedrückt.

„Es war fürchterlich“

Der damalige Liverpool-Torwart Bruce Grobbelaar erinnerte sich zum 20. Jahrestag in der Zeitung „Liverpool Echo“ an die Katastrophe – und an die panischen Gesichter der Fans, die gegen das Gitter gepresst wurden. „Sie haben nach mir geschrien, ob ich etwas tun kann“, sagte Grobbelaar. Der Keeper wandte sich an eine Polizistin. Die antwortete ihm, sie könne nichts tun. „Es war fürchterlich“, sagte der Keeper. „Es ist schwer zu begreifen, was da passiert ist.“

94 Fans, darunter viele Jugendliche, kamen am diesem 15. April 1989 ums Leben. Sie wurden zerquetscht oder erstickten. Das 95. Todesopfer starb einige Tage später im Krankenhaus. Ein zum Zeitpunkt des Unglücks 18-jähriger Zuschauer erlitt schwerste Hirnschäden. Er wurde jahrelang künstlich am Leben erhalten, bis die lebenserhaltenden Maßnahmen auf Bitten seiner Eltern abgeschaltet wurden. Er gilt als das 96. Todesopfer der Hillsborough-Katastrophe, bei der außerdem mehr als 700 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Jahrelanger Streit über Schuldfrage

Die Angehörigen der Opfer kämpfen seit Jahrzehnten dafür, dass die mutmaßlichen Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. „Alle hoffen endlich auf Gerechtigkeit“, sagt der 45-jährige Daly. „Aber ob es die wirklich geben wird, wage ich nicht zu beurteilen.“ Erst 2016 – nach jahrelangem Streit über die Schuldfrage – entschied ein Gericht nach einer unabhängigen Untersuchung, dass die Katastrophe kein Unfall war, sondern die Polizei durch ihr Fehlverhalten eine Mitschuld trug.

Gedenken an die Opfer der Hillsborough-Katastrophe in Anfield (Liverpool) im April 2016
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Angehörige der Opfer kämpfen seit Jahren vor Gericht gegen die Verantwortlichen

Weitreichende Konsequenzen gab es bisher nicht. Anfang des Monats endete der Gerichtsprozess gegen Duckenfield, der sich wegen fahrlässiger Tötung in 95 Fällen verantworten musste, ergebnislos. Die Jury am Preston Crown Court teilte mit, sie sei zu keinem Urteil gekommen. Die britische Staatsanwaltschaft kündigte umgehend ein Wiederaufnahmeverfahren gegen den 74-Jährigen an. Duckenfield sieht sich hingegen als Sündenbock, der für eine zu kurzfristige Planung und fehleranfällige Infrastruktur geradestehen müsse.

Die Anklage gegen einen weiteren Polizeibeamten war im August 2018 fallen gelassen worden, weil es laut Generalstaatsanwaltschaft keine realistische Aussicht auf eine Verurteilung gegeben habe. Immerhin gab es für die Angehörigen der Opfer nun einen kleinen Teilerfolg: Graham Mackrell (69), damals Geschäftsführer von Sheffield Wednesday, wurde wegen Missachtung der Sicherheitsvorschriften im Stadion für schuldig befunden. Es war der erste Schuldspruch nach Hillsborough.

Lange Liste an Verfehlungen

Sicherheitsbedenken gegen die hohen Zäune, die als Maßnahme gegen Hooliganismus und Platzstürme damals in vielen englischen Stadien standen, hatte es schon länger gegeben. Nach mehreren brenzligen Zwischenfällen in den Vorjahren, bei denen es auch Verletzte gab, sollen sich mehrere Fans sogar schriftlich an die Behörden gewandt und vor den Gefahren in Sheffield gewarnt haben – ohne Erfolg.

Gedenken an die Opfer von Hillsborough vor dem Spiel Liverpool gegen Bournemouth in Anfield im April 2017
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An der Anfield Road wird regelmäßig der 96 Opfer der Katastrophe von Sheffield gedacht

Womöglich hätte das Schlimmste verhindert werden können, wenn die Fluchttore zum Platz sofort geöffnet worden wären. Doch die Beamten zögerten, wohl weil die Angst vor einem Platzsturm größer war als die Sorge um die Gesundheit der Fans. Weitere schwere Versäumnisse soll es bei der medizinischen Versorgung der Opfer gegeben haben. Die Liste mutmaßlicher Verfehlungen rund um das Unglück ist lang.

Die bedenkliche Rolle der „Sun“

Für Entrüstung sorgte wenige Tage danach die britische Boulevardzeitung „The Sun“. Unter der Überschrift „Die Wahrheit“ erhob sie schwere Anschuldigungen gegen Fußballfans. Sie hätten die Opfer bestohlen, auf die Toten uriniert und die Polizei angegriffen. Die Berichte stellten sich im Nachhinein als unwahr heraus. Eine Entschuldigung kam erst spät. In Liverpool wird die „Sun“ bis heute von vielen Bürgern und Geschäften boykottiert.

„Wenn wir die Sun verkaufen würden, dann würden die Leute hier nicht mehr einkaufen“, sagt Adam, Verkäufer in einem Zeitschriftengeschäft in der Great George Street. Im Fenster des Geschäfts klebt ein Anti-„Sun“-Sticker. „Die Kunden haben entschieden, dass es dieses Scheißblatt hier nicht mehr gibt“, sagt Adam. „Es wurden damals so viele Lügen in der ‚Sun‘ verbreitet, keiner in Liverpool nimmt dieses Blatt mehr in die Hand.“ Auch 30 Jahre nach der Hillsborough-Tragödie sind die seelischen Wunden noch lange nicht verheilt.