Jubel der Atzgersdorferinnen
A. C. Schiffleitner
Handball

„Das Wunder“ von Atzgersdorf

Spätestens seit vergangenem Wochenende sind die Erfolgsdamen von Abomeister Hypo Niederösterreich den Nimbus der Unbesiegbaren auch auf nationalem Handballparkett los. Sogar von einem „Wunder“ war die Rede, nachdem sich WAT Atzgersdorf sensationell und erstmals zum österreichischen Meister aufgeschwungen hatte. Für den Traditionsclub aus dem 23. Wiener Gemeindebezirk machte sich die jahrelange Aufbauarbeit offenbar bezahlt.

Die Wende kam schleichend, schon der ÖHB-Cupsieg war nach davor 27 Erfolgen in Serie 2017 (MGA Fivers) und 2018 (UHC Stockerau) nicht an Hypo NÖ gegangen. Mit einem verlorenem WHA-Finale hätten die Südstädterinnen dennoch nie gerechnet. Keinen Punkt hatten sie bei einem Torverhältnis von +305 in 22 Spielen des Grunddurchgangs der abgelaufenen Meisterschaft abgegeben. Der Keulenschlag folgte im Finale prompt und für beide Mannschaften völlig unerwartet.

Dabei war das 18:22 in der Hans-Lackner-Halle in Atzgersdorf nur der Anfang vom Ende der Titelträume, die zu diesem Zeitpunkt längst nicht beendet waren. Vier Tore minus sollten im Heimspiel keine Hürde sein – wie Hypo in der erfolgreichen Vergangenheit lehrte. Doch es kam anders und diesmal gar nicht nach Hypos Geschmack. Das Team von Ferenc Kovacs wurde vom Kampfgeist der Atzgerdorferinnen auf dem falschen Fuß erwischt. Aufgeputscht von jedem weiteren Treffer blieben die WAT-Damen an Hypo dran und ließen sich zum Staunen des Publikums – auch in der Südstadt mehrheitlich Atzgersdorf-Fans – nicht abschütteln.

Jubel der Jubel der Atzgersdorfer-Fans
A. C. Schiffleitner
Hunderte Atzgersdorf-Fans hatten den Weg in die Südstadt gefunden und waren klar in der Überzahl

Letztlich sollte Atzgersdorf im Rückspiel nur zweimal weniger ins Tor getroffen haben als die Gastgeberinnen – mit dem Gesamtscore von 43:41 ging der Meistertitel erstmals nach Wien-Liesing und erstmals seit 1976 nicht an Hypo Niederösterreich. Tatsächlich entschied eine einzige verlorene Halbzeit der Hypo-Damen die Meisterschaft: Das 5:11 in der zweiten halben Stunde im Finalhinspiel. Die Sensation machte am vergangenen Sonntag in den Medien rasch die Runde, während in der Südstadt-Halle noch Tränen der Freude und Enttäuschung flossen.

Als Borg erstmals Wimbledon gewann

Selbst der schwedischen Tageszeitung „Aftonbladet“ war das Ende der Hypo-Erfolgsgeschichte eine Seite wert. Einst unter der Ägide des gestrengen und als Peitschenknaller berüchtigten Managers Gunnar Prokop waren die Hypo-Damen nach acht Champions-League-Siegen zwischen 1989 und 2000 in ganz Europa gefürchtet. Neun Jahre nach Prokops Abgang – wegen unüberbrückbarer Differenzen mit dem Clubvorstand in der Kaderplanung und nicht in Freundschaft – reichte es selbst für das Championat in Österreich nicht mehr.

Jubel der Atzgersdorferinnen mit Pokal und Sekt
GEPA/Philipp Brem
Der Jubel nach der Sensation war schier grenzenlos

„Aftonbladet“ schrieb vom Ende einer Ära und erinnerte an 1976, das Jahr des ersten Hypo-Meistertitels von später 42 in Serie. Im selben Jahr heiratete auch das schwedische Königspaar Carl XVI Gustaf und Silvia, die sozialdemokratische Partei Schwedens verlor erstmals nach 40 Jahren die Regierungsmacht und Björn Borg gewann seinen ersten von insgesamt fünf Titeln im Tennis-Mekka von Wimbledon. Auch Hypos Final-Niederlage gegen Atzgersdorf sei laut „Aftonbladet“ ein Ereignis von sporthistorischer Bedeutung gewesen.

Kein Meister wie aus heiterem Himmel

„Wir haben keine einzige Sekunde dran geglaubt, dass wir Meister werden könnten. Nicht zu Beginn der Saison, nicht während der Saison. Plötzlich waren wir im Finale. Jetzt sind wir wirklich Meister“, sagte ÖHB-Teamspielerin Altina Berisha nach ihrem vorerst letzten Spiel für Atzgersdorf. Österreichs Handballerin des Jahres 2018, die in der vergangenen Saison nach zweijährigem Intermezzo bei Hypo nach Atzgersdorf zurückgekehrt war, wird in der kommenden Saison für den deutschen Zweitligaverein VfL Waiblingen auf Torjagd gehen.

Den Meistertitel gab es sensationell als Abschiedsgeschenk. Noch zur Halbzeit der vergangenen Saison hatten die 24-jährige Jus-Studentin und ihre Teamkameradinnen um den Verbleib in der höchsten Spielklasse bangen müssen. Dank starker zweiter Saisonhälfte wurde es noch der sechste Platz, den Titel packten sie diesmal drauf. „Hätte uns das vor Saisonbeginn jemand prophezeit, ich hätte es nicht geglaubt. Mit dieser Truppe, ein Wahnsinn“, sagte Torfrau Stephanie Reichl. Von einem „Wunder“ sprach gar Flügelspielerin Rita Werner.

Eine Erklärung dafür war dennoch rasch gefunden. Von Trainer Olivier Haunold, der dem Atzgersdorfer Männer-Bereich entstammt und von Obmann Christian Mahr 2018 für den Trainerjob bei den WHA-Damen begeistert werden konnte, perfekt eingestellt, hatte sich der krasse Außenseiter ohne Respekt und ungestüm dem Serienmeister entgegengestellt und die harte Prüfung so bestanden. Der Rückhalt der Fans sei neben Teamgeist und Kameradschaft zudem ein Erfolgsfaktor der „Schülerinnen- und Studentinnen-Truppe“ (Mahr) gewesen. „Das war immer so, und darauf sind wir stolz. Wir sind eine große Familie in Atzgersdorf. Jede von uns ist froh, hier zu sein“, sagte Kreisläuferin Antonia Kietaibl.

Jubel von Atzgersdorf-Klubobmann Christian Mahr
A. C. Schiffleitner
Clubobmann Christian Mahr nach dem sporthistorischen Erfolg seiner WHA-Damen in der Südstadt

Atzgersdorf ist im heimischen Handball mit 107-jähriger Geschichte ein Traditionsverein und mit 257 aktiven im Männer- und Frauenbereich sogar der größte, im Nachwuchsbereich auch der erfolgreichste. 26 Trainer und Betreuer kümmern sich um insgesamt 24 Mannschaften. Zu Recht bezeichnet sich der Club als Handball-Nachwuchsschmiede. Dass beim aktuellen WHA-Meister – anders als bei Hypo NÖ – keine Legionärinnen und durchwegs Eigenbauspielerinnen auf dem Parkett standen, zeigt die nachhaltige Wirkung des Erfolgskonzepts. Und jedes Jahr stoßen rund 40 neue Talente zum Nachwuchsfundus hinzu.

Erfolgshunger treibt zu Höchstleistung

Eine Erklärung für die Niederlage fand auch Hypo-Coach Kovacs, der mit großem Respekt die Leistung insgesamt, aber vor allem die Deckungsarbeit und die Euphorie in den Reihen der erfolgshungrigen und also besonders motivierten Atzgersdorferinnen in den Mittelpunkt rückte. „Im Finale waren wir vorne nicht klug genug. Dann beginnt man zu grübeln und zu zweifeln. Mit dieser Ratlosigkeit kommt die Unsicherheit. Plötzlich werden ausgemachte Würfe vergessen. So sind solche Niederlagen zu erklären“, so Kovacs. „Die größte Enttäuschung“ war es für Hypo-Kapitänin Mireila Dedic, die in ihrer 13. WHA-Saison mit Hypo zum ersten Mal nicht den Meisterpokal stemmen durfte.

Die Wachablöse im heimischen Frauen-Handball war Gewissheit geworden. Der Vergleich mit dem Sieg Davids gegen Goliath und dem gallischen Dorf schien aufgelegt – angeheizt von Mahr, der vor sieben Jahren als Obmann mit neuem Vorstand ehrenamtlich angetreten war, den Club auf breiter Basis an die Spitze zu führen: „So eine Wachablöse zu schaffen mit einer Mannschaft aus Studentinnen, die viermal in der Woche im Training alles geben – das ist großartig, unglaublich.“ Das Erfolgsrezept als Außenseiter gegen einen schier übermächtigen Gegner: „Einsatz, wahnsinnige Disziplin und Zielorientiertheit“ – und professionelle Nachwuchsarbeit, die in Atzgersdorf praktiziert wird.

Ende einer Erfolgsära

Die Erfolgsgeschichte von Hypo NÖ im österreichischen Damen-Handball ist nach 42 Jahren zu Ende. Der neue Meister heißt WAT Atzgersdorf.

Zerbrachen die Hypo-Damen gar am selbst geschürten Erfolgsdruck, dem sie auf dem Weg zu ihrem 43. Meistertitel plötzlich nicht mehr gewachsen gewesen sein könnten? Wohl eher spielten sie simpel nicht so gut Handball wie gewohnt. Torfrau-Routinier Olga Sanko, die nach zehn Saisonen bei Hypo offiziell verabschiedet wurde, brachte es nach dem verlorenen Meistertitel auf den Punkt: „Hypo ist nicht mehr die Mannschaft von früher. Damals waren wir der große Leader. Jeder wusste, dass wir die Besten sind. Dafür ist die Meisterschaft jetzt interessanter. Das ist zwar nicht gut für uns, aber gut für die Fans.“