Statue des Pheidippides in der Nähe von Marathon.
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Marathon

Der Wandel vom Mythos zum Massensport

Wegen der Coronavirus-Pandemie sind alle in diesem Frühling geplanten großen Marathonläufe abgesagt oder in den Herbst verschoben worden – darunter auch der für den 19. April geplante 37. Vienna City Marathon, mit jährlich über 40.000 Teilnehmern das größte Breitensportereignis Österreichs. Seit seinem mythischen Ursprung vor über 2.500 Jahren in Griechenland hat der Marathon aber zweifellos einen fulminanten Erfolgslauf hingelegt.

Im antiken Griechenland fanden zwar jahrhundertelang Olympische Spiele statt, der Marathon war in Olympia allerdings keine Disziplin. Das sollte sich erst 1896 bei den ersten Spielen der Neuzeit ändern. Angesichts des Austragungsortes Athen hatte der Franzose Michel Breal die Idee, in Anlehnung an den legendären Lauf des Pheidippides von Marathon nach Athen im Jahr 490 vor Christus einen Langstreckenlauf ins Programm aufzunehmen. Pierre de Coubertin, der Begründer des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), nahm die Anregung seines Freundes auf, und so schlug vor mittlerweile 124 Jahren nicht nur die Geburtsstunde der modernen Olympischen Spiele, sondern auch jene des Marathonlaufs.

Die Ursprungslegende besagt, der Läufer Pheidippides habe sich nach dem Sieg der Athener in der Schlacht von Marathon auf den knapp 40 Kilometer langen Weg nach Athen gemacht, wo er nach Verkündung seiner Siegesbotschaft tot zusammengebrochen sei. Allerdings ist diese Version erst über 500 Jahre danach durch die Schriftsteller Plutarch und Lukian entstanden. In der ursprünglichen, fast zeitgenössischen Version des Geschichtsschreibers Herodot war Pheidippides in zwei Tagen die mit 245 Kilometern wesentlich längere Strecke von Athen nach Sparta gelaufen, um Hilfe im Krieg gegen die Perser zu holen.

Spyridon Louis schreibt Olympiageschichte

Eine besondere Geschichte war auch die Olympiapremiere im damals noch rund 40 Kilometer langen Marathonlauf. Am 10. April 1896 gingen 17 Männer, darunter 13 Griechen, an den Start. Angeführt wurde das Feld bald von einem Trio, das drei Tage zuvor im 1.500-Meter-Lauf die ersten drei Plätze belegt hatte. Sowohl der Australier Edwin Flack als auch der US-Amerikaner Arthur Blake und der Franzose Albin Lermusiaux hatten aber noch keinerlei Erfahrung auf der Langstrecke und legten als Mittelstreckenläufer ein zu hohes Tempo vor.

Spyridon Louis, ein Bauernsohn und Laufbursche aus einem Vorort Athens, überholte einen schwächelnden Gegner nach dem anderen – und das, obwohl er laut Augenzeugen während des Rennens sogar Wein oder Cognac trank. Der 23-Jährige, der sich erst zwei Wochen zuvor bei einem Testlauf für den olympischen Marathon qualifiziert hatte, lief nach 2:58:30 Stunden über die Ziellinie im Olympiastadion und sorgte damit für den allerersten Sieg des Gastgeberlandes.

Spyridon Louis als erstes Sieger der Disziplin Marathon bei ersten olympischen Spielen der Neuzeit 1896.
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Spyridon Louis wurde 1896 in Athen überraschend Olympiasieger und damit zum griechischen Nationalhelden

Belohnt wurde der nunmehrige griechische Nationalheld mit einem silbernen Becher, der damals noch statt einer Goldmedaille verliehen wurde, sowie einigen Geschenken. Darunter waren auch ein Stück Land und eine bescheidene Rente von seinem Heimatdorf Marousi, in das er sich nach dem Olympiasieg zurückzog und fortan an keinen Wettkämpfen mehr teilnahm. Der Silberbecher wurde übrigens im Jahr 2012 um mehr als eine halbe Million britische Pfund versteigert. Nach Louis benannt sind immer noch zahlreiche Sportstätten auf der ganzen Welt, darunter der zu den Sommerspielen 2004 erbaute Olympiasportkomplex Athen in seinem Heimatort Marousi.

Boston-Premiere und Festlegung der Distanz

1897, also nur ein Jahr später, fand der erste Boston-Marathon statt, heute mit 123 Auflagen der traditionsreichste Marathonlauf der Welt. In den Anfangsjahren variierte die Distanz zwischen 37 und 41 Kilometern, zum ersten Mal über die heute vorgeschriebene Länge von 42,195 Kilometern wurde erst bei den Olympischen Spielen 1908 in London gelaufen.

Grund für die Verlängerung war, dass der Start beim Schloss Windsor und das Ziel vor der königlichen Loge im Olympiastadion sein sollte. Und diese Strecke war eben die heute üblichen 26 Meilen und 385 Yards lang. Angeblich bedanken sich britische Marathonläufer immer noch im Finish mit einem „God Save the Queen“ für die zusätzlichen harten Meter. Weil in den folgenden Jahren immer mehr Marathons die Londoner Streckenlänge übernahmen, wurde diese schließlich 1921 offiziell in den Regeln festgeschrieben.

Drama um Dorando Pietri

Besondere Aufmerksamkeit erregte der olympische Marathon 1908 auch wegen seines dramatischen Ausgangs. Dorando Pietri lief mit großem Vorsprung ins Stadion ein und dem sicher scheinenden Olympiasieg entgegen. Völlig entkräftet wollte der Italiener aber zunächst in die falsche Richtung abbiegen und brach danach insgesamt fünfmal zusammen. Nach dem letzten Sturz rund zehn Meter vor dem Ziel wurde Pietri schließlich von einigen Ärzten und Kampfrichtern über die Linie geschoben, als bereits der zweitplatzierte US-Amerikaner John Hayes zehn Minuten nach ihm das Stadion erreicht hatte. Der – wahrscheinlich mit Strychnin gedopte – Italiener wurde wegen verbotener Hilfestellung disqualifiziert und der 32 Sekunden hinter ihm gewesene Hayes zum Sieger erklärt.

Dorando Pieri beendet den Marathon bei den olympischen Spielen in London.
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Dorando Pietri kam 1908 in London als Erster ins Ziel, verlor seinen Sieg jedoch wegen unerlaubter Hilfe

Die weit verbreitete Legende, dass Sherlock-Holmes-Autor Arthur Conan Doyle einer der „Helfer“ Pietris war, ist übrigens unwahr. Der Zeitungsreporter Doyle trug mit seiner emotionalen Schilderung des Dramas aber viel zur Popularität des Italieners bei. Nach den Spielen wurde in den USA eine Reihe von Revancherennen zwischen Pietri und Hayes ausgetragen. Daran beteiligten sich immer mehr Läufer, die bald wie ein Wanderzirkus durchs Land und dann auch die Welt zogen.

Zatopek und Bikila sorgen für Aufsehen

Abgesehen von den Olympischen Spielen fristete der Marathon danach viele Jahre eher ein Stiefmütterchendasein, für internationale Aufmerksamkeit sorgten in den 1950er und 1960er Jahren dann Emil Zatopek und Abebe Bikila. Die tschechische „Lokomotive“ lief 1952 zum Abschluss der Sommerspiele in Helsinki im Marathon zu seinem umjubelten vierten und letzten Olympiasieg – nur wenige Minuten später holte seine Ehefrau Dana Zatopkova Gold im Speerwurf.

Acht Jahre später verblüffte dann Bikila in Rom die Sportwelt. Der in Europa davor praktisch unbekannte Äthiopier gewann den Marathon in der Weltbestzeit von 2:15:16 Stunden und holte damit das allererste Olympiagold für sein Heimatland. Die eigentliche Sensation dabei war aber, dass Bikila als einziger Athlet barfuß lief. 1964 in Tokio wiederholte er – nun allerdings mit Schuhen – seinen Erfolg von 1960, stellte mit 2:12:11 Stunden erneut eine Weltbestzeit auf und kürte sich zum ersten Doppelolympiasieger im Marathon.

Abebe Bikila führt den Marathon in Rom 1967 Barfuß an.
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Abebe Bikila lief 1960 in Rom barfuß zum ersten seiner zwei Olympiasiege

Kathrine Switzer als Pionierin

Im Jahr 1967 begann dann der Marathon, als Männerdomäne zu bröckeln – und hauptverantwortlich dafür war die US-Amerikanerin Kathrine Switzer. Durften Frauen bis dahin beim Boston-Marathon nur inoffiziell und ohne Startnummern mitlaufen, so meldete sich die 20-Jährige unauffällig als „K. V. Switzer“ an und startete, begleitet von zwei Freunden, im offiziellen Männerfeld.

Als Renndirektor Jock Semple sie als Frau erkannte und versuchte, ihr die Nummer abzureißen, kam ihr ihr Begleiter und späterer Ehemann, der Hammerwerfer Tom Miller, zu Hilfe und stieß Semple zur Seite, sodass Switzer das Rennen fortsetzen und beenden konnte. Weil sich der Vorfall direkt vor dem Pressebus abgespielt hatte, gingen die Fotos um die Welt und lösten heftige Diskussionen um den Frauensport aus. Offiziell zugelassen wurden Frauen in Boston allerdings erst 1972, und um Olympiamedaillen dürfen sie erst seit 1984 laufen.

kathrine Switzer läuft als erste Frau den Boston Marathon 1967.
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Kathrine Switzer ebnete den Frauen mit ihrem „verbotenen“ Start 1967 in Boston den Weg zum Marathonlauf

New York findet viele Nachahmer

In den 1970er Jahren entwickelte sich das Laufen allgemein – und damit auch der Marathon – langsam zum Breitensport. 1970 fand in New York City erstmals der heute berühmteste und mit über 50.000 Finishern teilnehmerstärkste Marathon der Welt statt. Ihm folgten in vielen großen Städten andere wie etwa in Berlin (1974), Chicago (1977) und London (1981). Dieses Trio bildet seit einigen Jahren gemeinsam mit Boston, New York und Tokio die World Marathon Majors (WMM), eine im Läuferkreisen auch als „Big Six“ bezeichnete Serie der sechs größten und bekanntesten Stadtmarathons.

Massen an Läufern beim New York City Marathon 2019.
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In New York City findet jährlich im November der berühmteste und größte Marathon der Welt statt

WMM-Titelträger bei den Männern ist seit 2015 der Kenianer Eliud Kipchoge, der seit Berlin 2018 mit 2:01:39 Stunden auch den offiziellen Weltrekord hält und am 12. Oktober 2019 bei einem eigens organisierten Rekordlauf im Wiener Prater in 1:59:40 Stunden als erster Mensch die Marathondistanz in weniger als zwei Stunden bewältigte.

Seit 1984 prägten die Marathonläufer jedes Jahr an einem Sonntag im Frühling auch das Stadtbild Wiens. Der anfangs Frühlingsmarathon bezeichnete Lauf wuchs rasch, wurde 1994 zum Vienna City Marathon (VCM) und durfte sich in den letzten Jahren jeweils über 40.000 bis 45.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen (inklusive Halbmarathon, Staffel, Nachwuchsläufen und sonstigen Bewerben) freuen.

Terror und Krieg getrotzt

Eine Absage des VCM stand bis 2020 nie im Raum, auch nicht 2010 nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, dessen Aschewolke den Flugverkehr in Europa lahmlegte und die Anreise Tausender Läufer nach Wien verhinderte.

Auch Terroranschläge konnten die Durchführung von Marathons bisher nicht verhindern. In New York wurde sogar nicht einmal zwei Monate nach den verheerenden Attentaten mit rund 3.000 Todesopfern am 11. September 2001 gelaufen. Direkt von Terror betroffen war die Marathonszene dann am 15. April 2013 in Boston: Bei zwei Bombenanschlägen auf der Zielgeraden wurden drei Menschen getötet und mehr als 250 schwer verletzt. In den Monaten danach gingen zahlreiche Stadtmarathons unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen über die Bühne, Absagen gab es aber keine.

Terroranschlag beim Boston MArathon 2013.
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Der Boston-Marathon 2013 wurde von Bombenattentaten überschattet

Für die bis heuer einzige nennenswerte Absage zeichnete ein Wirbelsturm verantwortlich: Am 4. November 2012 konnte in New York nicht gelaufen werden, weil der Hurricane „Sandy“ nur eine Woche davor die US-Metropole heimgesucht hatte. Der Boston-Marathon konnte seit 1897 trotz zweier Weltkriege immer durchgeführt werden, lediglich 1918 gab es dabei kriegsbedingt nur einen Staffellauf. Damit diese Rekordserie nicht abbricht, wurde die 124. Auflage des Klassikers wegen der Coronavirus-Pandemie nicht wie etwa in Wien abgesagt, sondern vom 20. April auf den 14. September verschoben.