Tour de France
Reuters/Gonzalo Fuentes
Tour de France

Ein Monument allein auf weiter Flur

Die Tour de France behauptet sich vorerst wacker als uneinnehmbare Bastion. Als eines der wenigen und als zugleich größtes, jährliches Mehrtagessportevent wurde die Frankreich-Rundfahrt trotz der Coronavirus-Pandemie noch nicht abgesagt oder verschoben. Ob sich die Welt und gerade Frankreich bis zum geplanten Start am 27. Juni wieder in geordneten Bahnen bewegen, ist aber höchst ungewiss. Das Monument Tour wird wohl fallen. Daran zweifeln auch die Ex-Profis Rene Haselbacher und Gerhard Zadrobilek nicht im Geringsten.

Mit der Verbannung der Zuschauer und dem Verzicht auf die legendäre Werbekarawane oder des Tour-Dorfes in den Etappenstartorten als Maßnahmen dürfte es nicht getan sein, wenn rund 200 Radprofis aus aller Welt und Tausende Begleiter im Tour-Tross im Uhrzeigersinn als Virenschleuder durch das Land ziehen. Auch dem Schutz der Sportler als oberstem Gebot würden die Amaury Sport Organisation (ASO) als Veranstalter und Tour-Direktor Christian Prudhomme nach aktuellem Stand zweifellos nicht gerecht werden können.

Es sei denn, man stelle sich vor, die Tour ginge als Verfolgungsrennen in Szene, mit Startintervallen je nach Etappenlänge von mindestens zwei Minuten und Blockabfertigung in den Verpflegungszonen. Der Windschatten des Vordermanns wäre ebenso tabu wie das Überholen desselben innerhalb des geforderten Mindestabstands von eineinhalb bis zwei Metern. Die Etappen müssten verkürzt und das Tempo radikal gedrosselt werden, um das Immunsystem nicht zu sehr zu fordern, weil die Athleten bei übermäßiger Anstrengung besonders anfällig für grippale Infekte und Viren sind. Im Akutfall wären Schutzanzüge und -Masken von Vorteil.

Christian Prudhomme
APA/AFP/Ritzau Scanpix/Henning Bagger
Tour-Direktor Christian Prudhomme hat sich bislang nicht zu einer Absage durchringen können

Für Absage noch zu früh?

Wahrscheinlicher ist, dass die Tour de France 2020 wie der Giro d’Italia, die Olympischen Spiele und die Fußball-EM abgesagt wird. Noch gibt sich Direktor Prudhomme kämpferisch. „Sobald die Aktivitäten wieder aufgenommen werden, wird der Hunger auf das Rennen immens sein.“ Er hoffe, in erster Linie zum Wohle des Landes, dass die Coronavirus-Situation bis dahin geregelt sei. Frankreichs Sportministerin Roxana Maracineanu sagte: „Die Tour ist ein sportliches Monument, für eine Absage ist es zu früh.“ Derzeit gäbe es zudem Dringenderes zu tun. „Konzentrieren wir uns einmal auf den Berg, der vor uns liegt. Dann schauen wir weiter.“

„Wie kommt man überhaupt noch auf diese Idee, die Tour heuer veranstalten zu wollen“, gab sich der österreichische Ex-Profi und Tour-Teilnehmer Rene Haselbacher auf ORF.at-Nachfrage erstaunt. „Jedes Großereignis wird abgesagt, nur die Tour will es durchziehen. Kann ich nicht verstehen“, so der 42-Jährige. Aktuell könne er nicht annähernd einen Reiz für Radprofis an einer Fahrt durch Frankreich erkennen. Zudem sei ihm völlig unklar, wie Fans von den Straßen ferngehalten werden sollten. „Zu sagen, bleibt zu Hause und schaut euch die Tour im Fernsehen an, wird nichts bringen. Alles andere wäre organisatorisch unmöglich.“

Rene Haselbacher bei der Tour de France
GEPA/Herman Seidl
Rene Haselbacher (2.v.r.), gezeichnet von Stürzen, bei der Tour de France 2003

Plan für „kastriertes Rennen“

Für Gerhard Zadrobilek, einen anderen Ex-Profi (er gewann einst als erster Fahrer ein Weltcup-Rennen auf der Straße und auf dem Mountainbike, Anm.), wäre die Tour de France ohne Zuschauer ohnehin keine Option. Was bliebe, sei ein kastriertes Rennen. „Ein Trauerspiel, die Tour lebt vom Enthusiasmus der Fans, die sich Tage davor entlang der Strecke im Campingbus einquartieren und Party machen. Ohne Fans kann ich mir die Tour nicht vorstellen“, sagte Zadrobilek und verwies auf die Situation zuletzt im Fußball: „Die Matches ohne Zuschauer waren für mich nicht zum Anschauen. Da fehlte der einfach essenzielle Teil. Wer könnte sich ein Champions-League-Finale ohne Zuschauer vorstellen?“

Für die Zufriedenheit der Sponsoren und also das finanzielle Überleben der Radteams wäre selbst eine verkürzte Version der Tour ohne Fans hilfreich. Für die Athleten wäre die Umstellung aber immens, und die Motivation bei diesem Kraftakt ohne emotionale Unterstützung vom Straßenrand wohl schwer hoch zu halten. „Das komplette Flair würde wegfallen, extrem hart“, so Zadrobilek. Solange es Aussichten auf die Tour aber gibt, müssten die Fahrer voll weiter trainieren, zumal es für viele auch um die Verträge für die kommenden Jahre geht. „Selbst für eine abgespeckte Version würden sich alle intensiv vorbereiten. Sonst könnten sie das Rad gleich an den Nagel hängen.“

Ex-Radprofi Gerhard Zadrobilek
APA/Roland Schlager
Zadrobilek gewann einst als erster Fahrer ein Weltcup-Rennen auf der Straße und auf dem Mountainbike

Haselbacher dagegen zweifelte an der Motivation der Athleten. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube eher, dass die Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken, unter den Fahrern sehr groß ist. Wäre ich noch aktiv, würde ich derzeit nicht an die Tour de France denken“, sagte Haselbacher. „Wir wissen alle nicht, wie lange die Krise dauert, und was in zwei oder drei Monaten los ist. An der Tour in diesem Jahr festzuhalten halte ich deshalb für absolut keine gute Idee und für blöd. Ich würde ganz sicher nicht starten.“

Sinnvoller Schutz unmöglich

Sonstige Wettkämpfe sind für die Radprofis aktuell keine in Sicht, weil der Internationale Radsportverband (UCI) vorerst alle Bewerbe auf Eis legte. Die Wertungen wurden mit Stand vom 15. März eingefroren, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Die Motivation droht womöglich zu sinken, weil das konkrete Ziel fehlt. Die Trainingsbedingungen sind teilweise massiv eingeschränkt. Es bleibt aber auch eine gesundheitliche Gratwanderung eben wegen des Risikos, bei zu hoher Trainingsbelastung anfällig für das Coronavirus zu sein. Radprofis wie alle anderen Sportler haben es derzeit wirklich nicht einfach.

Die Fahrer im Rennen vor einer Übertragung des Coronavirus zu schützen sei unmöglich – da sind sich Haselbacher („Wie soll das gehen?“) und Zadrobilek einig. „Sie fahren Schulter an Schulter, Abstände von zwei Metern sind undenkbar. Sinnvoll zu schützen geht nicht“, sagte Zabrobilek. Letztlich sei eine Absage unumgänglich. „Das wäre zwar krass, aber der Radsport hat schon viele schlechte Zeiten überstanden. Die Frage ist nur, wie die globalen wirtschaftlichen Schäden nach der Krise aussehen. Denn viele Unternehmen streichen immer zuerst die Sponsoringbudgets – egal, um welche Sportart es sich dabei handelt.“