Pferderennen beim Grand National Festival am Aintree Racecourse, Liverpool
Reuters/Peter Powell
Pferdesport

Grand National entzweit die Gemüter

Am Samstag hätte in Aintree bei Liverpool das ebenso berühmte wie berüchtigte Grand National über die Bühne gehen sollen. Doch die Coronavirus-Pandemie hat den Veranstaltern des Hindernisrennens so wie vielen anderen Großereignissen rund um die Welt einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Seit 1839 wird das Grand National Meeting abgehalten, vor knapp zwei Wochen musste der veranstaltende Jockey Club die Absage der 173. Auflage verkünden. Das Grand National, das wegen seiner vielen Stürze einen sehr zwiespältigen Ruf hat, wäre am Samstag der Höhepunkt der über drei Tage gehenden Veranstaltung gewesen.

Das Meeting elektrisiert trotz aller Kritik jedes Jahr Wettbegeisterte im ganzen Land, es ist auch ein gesellschaftliches Großereignis mit insgesamt rund 150.000 Besuchern an den drei Tagen, die sich entlang der Rennbahn an Champagner und Snacks erfreuen. Vergangenes Jahr verfolgten weltweit an die 500 Millionen Zuschauer das Rennen über 4,5 Meilen (rund 7,2 km) und 30 Hindernisse an den Bildschirmen, an Wetteinsätzen kamen an die 300 Millionen Pfund (etwa 335 Millionen Euro) zusammen.

Zuschauerinnen mit Sektgläsern in der Hand lachen
Reuters/Paul Childs
Zum Aintree Racecourse kommt man auch, um gesehen zu werden

Tiger Roll verpasst Chance auf Hattrick

Großer Favorit wäre heuer Tiger Roll gewesen. Der irische Wallach hatte im Vorjahr Sportgeschichte geschrieben, als er als erstes Pferd seit dem legendären Red Rum 1973/74 das Grand National zum zweiten Mal in Folge gewinnen konnte. Red Rum hatte sich auch noch 1977 in die Siegerliste eintragen, drei Triumphe hintereinander sind aber noch keinem Pferd gelungen.

Davy Russell springt mit Pferd Tiger Roll über ein Hindernis
Reuters/Jason Cairnduff
In den vergangenen zwei Jahren war Tiger Roll nicht zu schlagen

Auch Tiger Roll hätte es heuer nicht leicht gehabt, diesen sportlichen Meilenstein zu knacken. Denn in Aintree werden „Handicaps“ vergeben, um die Chancengleichheit zu erhöhen. Das bedeutet, dass den Pferden je nach ihrer Form Zusatzgewichte aufgebürdet werden. Heuer hätten es für den zehnjährigen Wallach 74 Kilogramm sein sollen. Sein Besitzer, Ryanair-Chef Michael O’Leary, hatte daher laut darüber nachgedacht, Tiger Roll sogar aus dem Rennen zu nehmen.

Virtuelles Rennen nahe an der Wirklichkeit

Vor der endgültigen Absage hatte der Jockey Club erwogen, das Rennen ohne Zuschauer auszutragen. Stattdessen bietet der Sender ITV den Pferdesportfans am Samstag nun ein virtuelles Rennen in 3-D-Computergrafik an. Dabei sollen so wie beim echten Grand National 40 Pferde an den Start gehen.

Was ursprünglich eigentlich als Vorprogramm zum Rennen gedacht war, übernimmt nun also die Hauptrolle. Mit dabei im Studio sind auch Tiger Roll und der 1995 verstorbene Red Rum. Das virtuelle Rennen gibt es seit 2017, und seine Ergebnisse können sich bisher durchaus sehen lassen. Bei der ersten Auflage setzte sich Cause of Causes im Studio durch und wurde wenige Stunden später auf der Rennbahn nur knapp geschlagen. 2018 gewann Tiger Roll beide Versionen, im Vorjahr lag der Computer bei drei der Top Fünf richtig, darunter auch beim neuerlichen Sieger.

Schon 83 tote Pferde

Doch zurück zur Realität: Das Grand National ist das vielleicht berühmteste Pferderennen der Welt, sicher aber auch das berüchtigste. Während es für Trainer, Jockeys und Fans einen absoluten Saisonhöhepunkt darstellt, haben die Proteste der Tierschützer in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Denn die 30 mit Tannenzweigen abgedeckten Hindernisse sorgen bei dem Steeplechase (Jagdrennen) immer wieder für schlimme Stürze.

Mr. G Gallagher fällt von seinem Pferd De Luain Gorm im FoxHunters’ Steeple Chase beim Aintree Grand National Meeting in Liverpool
Reuters
Bei den Rennen in Aintree sind solche Szenen keine Seltenheit

Im Vorjahr musste erstmals seit 2012 wieder ein Pferd eingeschläfert werden, eine britische Tierschutzorganisation hat seit dem ersten Grand National 1839 insgesamt 83 tote Pferde gezählt. Und das nur bei dem Rennen selbst, die Veranstaltungen im Umfeld sind nicht mitgerechnet. Obwohl die Sprünge entschärft und die Niveauunterschiede vor und hinter den nun niedrigeren Hindernissen begradigt wurden, bleibt es ein gefährliches Rennen. 2019 erwischte es Up For Review schon am ersten Hindernis. Als Tiger Roll mit seinem Jockey Davy Russell und das Feld die Unglücksstelle zum zweiten Mal passierten, war für den verunglückten Hengst bereits jede Hilfe zu spät.

Red Rum und andere Sieger

Erster Sieger war 1839 Lottery, das bisher erfolgreichste Pferd ist Red Rum mit seinen drei Siege in den 1970er Jahren. Aufeinanderfolgende Siege gelangen neben Red Rum und Tiger Roll noch Abd-El-Kader (1850/51), The Colonel (1869/70) und Reynoldstown (1935/36). Als erfolgreichster Jockey tat sich George Stevens hervor, der von 1856 bis 1870 mit vier verschiedenen Pferden fünf Siege feierte.

Rennpferd Red Rum vor seiner eigenen Statue in Aintree
APA/AFP/John Giles
Der berühmte Red Rum vor einem Denkmal von Red Rum

Den Streckenrekord hält seit 1990 Mr. Frisk mit 8:47:80 Minuten, den deutlichsten Vorsprung hatte Cloister im Jahr 1893 mit 40 Längen. Die Größe des Feldes variierte über die Jahre von zehn (1883) bis zu 66 Teilnehmern (1929). Die meisten Pferde im Ziel gab es 1984 (23), 1928 schafften es gerade einmal zwei. Der am meisten beschäftigte Jockey war Richard Johnson mit 21 Rennen von 1997 bis 2019. Er war zugleich auch der Teilnehmer mit den meisten sieglosen Rennen – ebenfalls 21.

Aus der Seenot zum Erfolg

Einen bemerkenswerten Gewinner gab es 1904. Moifaa erlitt bei seiner Anreise aus Neuseeland angeblich vor Südafrika Schiffbruch und soll 50 Meilen geschwommen sein, ehe er auf eine Insel gelangte. Von dort wurde das Pferd schließlich gerettet und ließ anschließend in Aintree alle hinter sich. So lautet zumindest die – durchaus bemerkenswerte – Geschichte. 1967 setzte sich auf jeden Fall ganz ohne Fragezeichen der 100:1-Außenseiter Foinavon durch, nachdem er nach einem durch ein reiterloses Pferd ausgelösten Tumult als einziger Teilnehmer das 23. Hindernis im ersten Versuch genommen hatte.

1973 schlug dann die Stunde von Red Rum, der sich im Finish gegen den großen Favoriten The great Crisp durchsetzte. Im folgenden Jahr wurde das Vollblut dann seiner eigenen Favoritenrolle gerecht und vervollständigte 1977 das Triple. 1975 und 1976 wurde Red Rum jeweils Zweiter. 1977 war auch das Jahr, als Charlotte Brew als erster weiblicher Jockey am Grand National teilnahm. 1983 brachte Corbiere den ersten Sieg für eine weibliche Trainerin, Jenny Pitman. Sie konnte diesen Erfolg 1995 wiederholen.

Das Rennen, das nie stattfand

Im Jahr 1993 musste das Rennen als ungültig gewertet werden. Nach dem zweiten Fehlstart wurde abgebrochen, doch gut die Hälfte der Teilnehmer vollendete eine ganze Runde, einige Jockeys schafften sogar die volle Distanz, ehe sie vom Abbruch Notiz nahmen. Das mag auch daran gelegen sein, dass es damals viele Proteste entlang der Strecke gab und die Reiter die Stopzeichen der Offiziellen missinterpretierten. Eshna Ness ging jedenfalls als Pferd in die Geschichte ein, das das Grand National gewann, das nie stattfand.

Ein Steward versucht das Startseil zu reparieren
Action Images
Beim Grand National 1993 war die Verwirrung groß – so wie hier vor dem zweiten Startversuch

1999 durften sich Vater und Sohn über den Sieg freuen. Tommy Carrbury, der schon als Jockey gewonnen hatte, war nun als Trainer beim Erfolg von Sohn Paul auf Bobbyjo dabei. Ein Jahr später gab es diese Konstellation gleich noch einmal: Ted Walsh trainierte den von Ruby Walsh gerittenen Papillon. Einen Überraschungssieg gab es auch 2009, als sich 100:1-Außenseiter Mon Mome mit zwölf Längen Vorsprung durchsetzte. Es war der erste Erfolg für Trainerin Venetia Williams, die damit in die Fußspuren von Pitman trat. Heuer fällt das Rennen aus, weitere Höhepunkte in Aintree werden aber folgen.