Szene aus dem Match Tschechoslowakei gegen Sovietunion
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Fußball

Als die EM noch ein Störenfried war

Eine Europameisterschaft als Zeitverschwendung? Dieser Ansicht waren für über 60 Jahren nicht wenige Nationen und ihre Teamchefs. Eingebettet zwischen den alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften, bei denen es um den wichtigsten Titel im Fußball geht, wurde das neue Turnier eher als Störenfried denn als Bereicherung angesehen. Trotz aller Startprobleme entwickelte sich das Turnier aber zur Erfolgsgeschichte.

Zu Beginn sah es allerdings ganz und gar nicht danach aus. Der Terminkalender der Fußballverbände war mit WM und Bewerben für die Clubmannschaften überfrachtet. Daher war es nicht verwunderlich, dass sich die „Big Player“ auf die WM konzentrierten. So sagte etwa der damalige deutsche Teamchef Sepp Herberger, dass er seine Zeit zwischen zwei Weltmeisterschaften „nicht verschwenden“ wolle. Deutschland, Italien, die Niederlande, die Schweiz und Belgien sagten bei einer Sitzung des Europäischen Fußballverbands (UEFA) 1957 in Köln daher ab. Die Briten enthielten sich ihrer Stimme.

Anders war hingegen die Sachlage bei den sozialistischen Ländern. Diese sahen die Chance, sich bei dem neuen Wettbewerb auf dem internationalen Fußballparkett zu profilieren. Vierzehn Verbände stimmten der Austragung zu, womit der erste Europapokal der Nationen aus der Taufe gehoben war. Das Turnier dauerte inklusive Qualifikation vom 28. September 1958 bis zum 10. Juli 1960 und brachte schließlich die Sowjetunion als ersten Sieger hervor.

Henri-Delaunay-Pokal
AP/Peter Morrison
Die Henry-Delaunay-Trophäe für den Europameister hat sich über die Jahre nur wenig verändert

Vater und Sohn Delaunay als Gründer

Gut Ding brauchte allerdings Weile, denn wie schon bei der Weltmeisterschaft dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis der Ball endlich rollte – nämlich 31 Jahre. Eng verknüpft mit der Entstehung der EM ist der Name Delaunay. Henri Delaunay brachte 1927 beim Internationalen Fußballverband (FIFA) den Antrag zur Durchführung einer Europameisterschaft ein. Der war allerdings schlecht gewählt, denn schließlich war gerade die erste WM 1930 in Uruguay in Vorbereitung.

Delaunay beteuerte stets, dass er der Weltmeisterschaft keine Konkurrenz machen wolle. Sein Vorschlag wurde trotzdem zu den Akten gelegt. Delaunay verstarb 1955. Das Ansinnen, eine EM zu etablieren, ging aber direkt auf seinen Sohn Pierre über. In seinem Amt als UEFA-Generalsekretär, welches er von seinem Vater übernommen hatte, wurde er erneut vorstellig und mit viel Mühe 1957 erfolgreich.

Henri Delaunay
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Henri Delaunay war der geistige Vater der Europameisterschaft

Österreich scheiterte an Frankreich

Nach einer Verlängerung der Meldefrist um vier Monate standen 1958 schließlich 17 Teilnehmer für das Turnier, das mit einer Qualifikation im K.-o.-Modus mit Hin- und Rückspiel startete, fest: die Sowjetunion, Irland, Frankreich, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Norwegen, Jugoslawien, die DDR, Portugal, Polen, Dänemark, Ungarn, Spanien, die Tschechoslowakei, Bulgarien und auch Österreich. Die Ungarn verabschiedeten sich gleich in der ersten Runde gegen die Sowjetunion mit dem Gesamtscore von 1:4, womit auch ihre glanzvolle Ära zu Ende ging.

Österreich setzte sich zunächst gegen Norwegen mit einem 1:0-Auswärts- und einem 5:2-Heimsieg durch. Im „Viertelfinale“ bekam es Österreich mit Frankreich zu tun. Zu holen gab es dabei für die rot-weiß-rote Auswahl nichts. Mit dem Gesamtscore von 9:4 für die „Equipe Tricolore“ war für Österreich Endstation. Im Hinspiel (5:2) schoss ein gewisser Just Fontaine gleich drei Tore. Der heute 86-Jährige hält mit 13 Treffern bei einer WM nach wie vor den Rekord.

Titel für Sowjetunion dank Jaschin

Die Franzosen standen damit ebenso wie Jugoslawien, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion in der eigentlichen EM-Endrunde der vier besten Mannschaften. Die UdSSR kam allerdings kampflos ins Halbfinale, da Spaniens faschistischer Diktator Francisco Franco der spanischen Nationalmannschaft mit Superstar Alfredo di Stefano das Hinspiel in der Sowjetunion verboten hatte.

Gespielt wurde das Halbfinale in Paris und in Marseille. Jugoslawien verwandelte im Prinzenparkstadion mit drei Toren innerhalb von vier Minuten (75., 78., 79.) einen 2:4-Rückstand gegen Frankreich in einen 5:4-Erfolg und zog ins Endspiel ein. Die UdSSR folgte mit einem klaren 3:0-Sieg im Stade Velodrome gegen die Tschechoslowaken.

Austragungsort des ersten Finales war Paris. Das Endspiel wurde zur großen Bühne des damals 31-jährigen Lew Jaschin. Die Jugoslawen waren das klar bessere Team. Der Welttormann des 20. Jahrhunderts agierte aber in Hochform, weshalb die Partie beim Stand von 1:1 in die Verlängerung ging. In der 113. Minute erzielte Wiktor Ponedelnik den Siegestreffer und machte die Sowjetunion zum Premierensieger.

Lev Jaschin
AP
Der „Schwarze Panther“ Lew Jaschin lieferte eine grandiose Partie und ließ sich im Finale nur einmal bezwingen

Die Saat war ausgebracht

Knapp 18.000 Fans verfolgten das Endspiel. Finanziell war die EM ein Debakel. Die Berichterstattung hielt sich in Grenzen. Vor allem in den Zeitungen der abwesenden Nationen waren die Spiele vorwiegend nicht mehr als eine Randnotiz. Doch die Saat war einmal ausgebracht, und über die Jahre entwickelte sich daraus eines der wichtigsten Sportereignisse der Welt.

Bereits 1964 war das Interesse am Nationenpokal schon weitaus größer, als Veranstalter Spanien sich den Titel holte. Erst 1968 firmierte das Turnier aber unter Europameisterschaft, da sich alle wichtigen Nationen beteiligten. Die Qualifikation wurde daher erstmals in Gruppen eingeteilt. Danach ging es Schritt für Schritt zu jenem Format, wie sich die EM heute darstellt.

Eines blieb über die Jahre gleich. Die Henri-Delaunay-Trophäe, die der sowjetische Kapitän Igor Netto 1960 in den Pariser Nachthimmel streckte, heißt auch in der Gegenwart noch so. Und ein Störenfried ist die Europameisterschaft schon lange nicht. Viel eher störte es die zahlreihen Fußballfans, dass die Endrunde 2020 wegen der Coronavirus-Pandemie um ein Jahr verschoben werden musste.