Roger Federer (SUI) und Mark Philippoussis (AUS) im Wimbledon-Finale 2003
AP/Alastair Grant
Tennis

Alles begann mit einer Rasenwalze

Wimbledon – bei diesem Wort geht jedem Tennisfan das Herz auf. Nirgendwo sonst als auf dem „heiligen Rasen“ wird Tennis derart zelebriert, nirgendwo sonst ist der Prestigegewinn bei einem Turniersieg höher, nirgendwo sonst atmet jeder Quadratzoll Geschichte. Doch die Coronavirus-Krise macht auch vor Mythen nicht halt, und so muss der Rasenklassiker, dessen Geschichte mit einer kaputten Rasenwalze begann, heuer erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ausfallen.

Eine Verschiebung auf einen späteren Termin nach dem Vorbild der French Open, die nun im September stattfinden, konnte nicht umgesetzt werden. Zwar gäbe es wegen der Verlegung der Olympischen Spiele auf 2021 ein Zeitfenster im August, doch ob bis dahin die Pandemie bereits abgeklungen ist, bleibt fraglich. Noch weiter nach hinten hätte eine Verschiebung keinen Sinn gehabt, da dann die Rasenplätze aufgrund der geringeren Temperaturen extrem rutschig werden.

Die Anfänge des Wimbledon-Turniers waren unspektakulär. Im Jahr 1877, neun Jahre nach dessen Gründung, stand der All England Croquet Club im südwestlichen Londoner Stadtteil Wimbledon vor einem veritablen Problem: Die Rasenwalze, die zum Präparieren des neben den Krocket-Anlagen ebenfalls im Clubgelände vorhandenen Rasentennisplatzes verwendet wurde, war defekt. Kurzerhand wurde ein Turnier organisiert, mit dessen Einnahmen man die Reparatur der Walze finanzieren wollte.

Regen sorgt für Verschiebung

So fand ab dem 9. Juli das erste Wimbledon-Turnier statt. 22 Herren hatten ihre Nennung abgegeben, gespielt wurde – aus Rücksicht auf anwesende Damen – mit eleganten langärmligen Shirts und langen Hosen. Eine Woche später sollte das Finale zwischen den Engländern Spencer Gore und William Marshall steigen, doch der Regen erzwang eine Verschiebung – ein Phänomen, das in der Geschichte dieses Turniers nicht einmalig blieb.

Rene Lacoste 1928 in Wimbledon
AP
Tennismode anno 1928 – präsentiert von Rene Lacoste, der im Semifinale gegen Bill Tilden gewann und danach auch den Titel holte

Letztlich ging das Endspiel am 19. Juli über die Bühne, und nach 63 Minuten inklusive einer viertelstündigen Regenpause stand Gore als 6:1 6:2 6:4-Sieger fest. Gore, der das offensive Volleyspiel bevorzugte, profitierte unter anderem davon, dass das Netz an den Platzrändern fast eineinhalb Meter hoch war – Passierbälle waren damals deutlich schwieriger als bei den heute üblichen 1,07 Meter.

Ein Mythos wird geboren

Allein das Finale wollten mehr als 200 Zuschauer sehen, somit war der Reingewinn groß genug, um die Rasenwalze wieder auf Vordermann bringen zu lassen. Der Beginn einer einzigartigen Tradition war gelegt, denn nach gründlicher Analyse der sportlichen und wirtschaftlichen Aspekte beschloss der Club, der sich auf All England Lawn Tennis and Croquet Club umnannte, auch im folgenden Jahr ein Turnier abzuhalten.

Die Veranstaltung nahm bald größere Dimensionen an, so wurden ab 1884 auch Herren-Doppel und Damen-Einzel gespielt, und 1913 kamen Damen-Doppel und Mixed dazu. Das Clubgelände an der Worple Road wurde allmählich zu klein, sodass man sich 1922 zur Übersiedlung an die Church Road entschloss – mit einem Centre-Court, der Platz für fast 15.000 Fans bot.

Live und in Farbe

1937 berichtete die BBC erstmals live vom Wimbledon-Turnier, und am 1. Juli 1967 war die erste in Farbe ausgestrahlte TV-Sendung in Großbritannien natürlich eine Übertragung aus Wimbledon. Den Wünschen des Fernsehpublikums war es auch geschuldet, dass die traditionellen weißen Bälle ab 1986 den gelben weichen mussten.

Dach in Wimbledon wird 2009 geschlossen
AP/Sang Tan
Umgerechnet etwa 100 Millionen Euro ließen sich die Wimbledon-Organisatoren das Dach über dem Centre-Court kosten

Das leidige Problem mit den stunden- und manchmal sogar tagelangen Pausen wegen Regens wurde 2009 mit der Eröffnung des ab nun mit einem beweglichen, 3.000 Tonnen schweren Dach und einer Flutlichtanlage ausgestatteten Centre-Courts gelöst – zumindest für das TV-Publikum. Mittlerweile erhielt auch der Court No. 1 ein Dach, sodass die Fernsehanstalten sogar bei ausgedehnten Schlechtwetterperioden stets die Auswahl zwischen zwei Matches haben.

Erdbeeren und Weidegras

Untrennbar mit Wimbledon verbunden sind auch zahlreiche Eigenheiten dieses Turniers. Da wären einmal die Erdbeeren, mit denen sich die Zuschauer an den Erfrischungsständen für einen nicht geringen Betrag laben können. Sie werden mit Obers gereicht, Nichtengländer beschreiben ihren Geschmack als „etwas wässrig“. Festzuhalten ist auch, dass weiße Spielkleidung unumgänglich ist – ursprünglich, um den vorwiegend adeligen Zuschauern den Anblick von hässlichen Schweißflecken zu ersparen.

Eine Besonderheit ist auch die Tatsache, dass nach den ersten sechs Turniertagen der Sonntag („Middle Sunday“) spielfrei ist – nur bei extremen witterungsbedingen Verzögerungen wurde mit dieser Tradition gebrochen. Und während man bei zwei anderen Grand-Slam-Turnieren im Laufe der Zeit vom Belag Rasen abkam (US Open 1975, Australian Open 1988), wird in Wimbledon nach wie vor das grüne Geläuf bespielt. Übrigens: Neun Tonnen Saat Weidegras sind jährlich nötig, um die 18 Plätze wimbledonreif zu machen.

Erdbeeren 2017 in Wimbledon
AP/Tim Ireland
In Wimbledon werden pro Turnier 30 Tonnen Erdbeeren verspeist

Und schließlich sei noch zu erwähnen, dass die Aktiven beim Betreten des Centre-Courts bis 2003 die honorigen Besucherinnen und Besucher der Royal Box mit Knicks und Diener begrüßen mussten. Als 1992 der junge Andre Agassi, bereits voll auf sein kommendes Match fokussiert, grußlos an der Royal Box vorbeimarschieren wollte, wies ihn sein routinierter Gegner John McEnroe nachdrücklich zurecht. „Unglaublich“, erinnerte sich der einstige „Bad Boy“ McEnroe später daran, „ausgerechnet ich musste dem Jungen Manieren beibringen!“

Ein Rückblick auf einige denkwürdige Wimbledon-Momente:

1975: Ashe schlägt Connors

Alles war angerichtet für den zweiten Titelgewinn en suite von Jimmy Connors. Der athletische US-Amerikaner war ohne Satzverlust ins Endspiel gestürmt und stand nun seinem Landsmann Arthur Ashe gegenüber. Doch Connors wurde vom klugen Spiel seines Gegners eiskalt erwischt und verlor die ersten beiden Sätze jeweils 1:6. Mit einer kämpferischen Glanzleistung sicherte er sich zwar den dritten Durchgang, danach dominierte aber wieder Ashe, der sich als erster schwarzer Spieler den Turniersieg in Wimbledon sicherte.

1980: Das endlose Tiebreak

Feuer und Eis: So wurde das Endspiel zwischen dem streitbaren McEnroe und dem in sich gekehrten Björn Borg tituliert. Das Duell kumulierte im vierten Satz, als es zum Tiebreak kam. 22 Minuten dauerte es, ehe McEnroe mit 18/16 das bessere Ende für sich hatte und den Satzausgleich schaffte. Genützt hat es dem US-Amerikaner letztlich nicht: Der Schwede gewann den fünften Durchgang 8:6 und krönte sich zum fünften und letzten Mal zum Wimbledon-Champion.

1981: „You cannot be serious!“

McEnroe und seine Wutanfälle waren bereits legendär. Aber sein „You cannot be serious!" zu Schiedsrichter Eddie James, der einen vermeintlichen Linienball des US-Amerikaners als „out“ gegeben hatte, wurden zum Stehsatz, der sich ins kollektive Gedächtnis aller Tennisfans einbrannte. Gefallen sind diese Worte im Erstrundenmatch gegen seinen Landsmann Tom Gullikson, das er trotz seiner Tirade gewann – wie knapp zwei Wochen später auch das Finale gegen Björn Borg, womit er erstmals den Titel eingefahren hatte.

1990: Navratilova zum Neunten

Nach zwei Finalniederlagen in den Jahren davor gegen die überragende Steffi Graf wollte es Rasenkönigin Martina Navratilova noch einmal wissen. Die mittlerweile in den USA lebende Tschechin kämpfte sich trotz Knieschmerzen im Eiltempo ins Finale und bezwang dort Zina Garrison, die im Halbfinale Graf ausgeschaltet hatte. Für die 33-jährige Navratilova war es der neunte Triumph im Tennis-Mekka – eine Bestmarke, die nach wie vor Bestand hat.

1991: Sieger Becker – oder doch nicht?

Deutschland dominierte in diesen Tagen die Tennisszene: Bei den Damen ging der Titel zum dritten Mal an Graf, im Herren-Finale trafen mit dem zweifachen Champion Boris Becker und Michael Stich sogar zwei Deutsche aufeinander. Stich hatte sich bereits im Halbfinale mit einem Erfolg über Vorjahrssieger Stefan Edberg als brillanter Rasenspieler erwiesen und setzte sich gegen den favorisierten Becker in drei Sätzen durch. Referee John Bryson konnte das offenbar nicht glauben und verkündete: „Game, set and match Becker“, um wenig später doch noch Stich zum Gewinner zu erklären.

1993: Die Herzogin als Trostspenderin

So knapp war Jana Novotna am heiß ersehnten ersten Titel in Wimbledon: Die Tschechin führte im Finale gegen Graf mit zwei Breaks 4:1 im dritten Satz – am Ende hatte aber die Deutsche die Nase mit 6:4 vorne. Bei der von der Herzogin von Kent vorgenommenen Siegerehrung ließ Novotna ihren Tränen freien Lauf, die Herzogin nahm sie in den Arm und spendete ihr Trost. Mit Erfolg: Fünf Jahre später durfte sie Novotna die Siegerschale überreichen.

2008: Showdown im Dämmerlicht

Vier Stunden und 48 Minuten waren gespielt, als die beiden Allzeitgrößen Rafael Nadal und Roger Federer den letzten Ballwechsel des Finales absolvierten. Der spanische Sandplatzkönig hatte das bessere Ende für sich und kürte sich bei Einbruch der Dämmerung erstmals zum Wimbledon-Sieger. 6:4 6:4 6:7 (5/7) 6:7 (8/10) 9:7 lautete der Endstand in einem der besten Rasenmatches aller Zeiten – Nadal beendete damit die fünfjährige Dominanz des Schweizers in London.

Fotostrecke mit 7 Bildern

Rod Laver 1967 in Wimbledon
AP
Wimbledon sah in seiner Geschichte viele große Champions – wie etwa Rod Laver, der als einer der besten Serve-and-Volley-Spieler der Geschichte gilt
Arthur Ashe und Jimmy Connors beim Shakehands 1975 in Wimbledon
AP
Arthur Ashe erteilte dem scheinbar übermächtigen Jimmy Connors eine Lektion in Rasentennis
John McEnroe mit der Trophäe bei seinem Wimbledon-Sieg 1981
AP/Bob Dear
1981 durfte John McEnroe erstmals den Siegespokal in die Höhe stemmen
Martina Navratilova 1983 in Wimbledon
AP/Stoltman
Martina Navratilova triumphierte neunmal auf dem „heiligen Rasen“
Jana Novotna wird 1993 von der Herzogin von Kent getröstet
AP/Dave Caulkin
Nicht einmal die Herzogin von Kent konnte 1993 die unglückliche Jana Novotna nach ihrer Finalniederlage trösten
John Isner (USA) und Nicolas Mahut (FRA) 2010 neben dem Scoreboard in Wimbledon
AP/Alastair Grant
John Isner (links) und Nicolas Mahut konnten von ihrem Erstrundenmatch einfach nicht genug bekommen
Serena Williams (USA) mit Trophäe bei ihrem Wimbledon-Sieg 2016
AP/Ben Curtis
Mit 100 Assen im gesamten Turnier stürmte Serena Williams zum siebenten Wimbledon-Titel

2010: Die Marathon-Männer

Man muss schon zweimal hinschauen, um das Ergebnis auch wirklich richtig zu lesen: John Isner bezwang Nicolas Mahut in der ersten Runde mit 6:4 3:6 6:7 (7/9) 7:6 (7/3) 70:68. Das war sogar der Anzeigetafel zu viel: Bei 47:47 blieb sie stehen, um wenig später gänzlich zu erlöschen. Die Partie auf dem Court Nr. 18 ging über drei Tage, die Spielzeit betrug elf Stunden und fünf Minuten und ist damit die längste der Tennisgeschichte. 2011 standen die beiden einander erneut in Runde eins gegenüber, diesmal reichten Isner drei Sätze zum Sieg.

2013: Murray beendet britische Durststrecke

77 Jahre war es her, seit sich mit Fred Perry letztmalig ein Brite in die Wimbledon-Siegerliste im Herren-Einzel eintragen konnte. Dem Schotten Andy Murray war es vorbehalten, die Londoner in Verzückung zu versetzen – und das in einer Ära, die von Federer, Nadal und Novak Djokovic geprägt war. Noch im Jahr davor war er im Endspiel Federer unterlegen. Gegen Djokovic gewann Murray in drei Sätzen – das war ihm schon in einem anderen Finale in Wimbledon gelungen: 2012 fertigte er Federer ab, allerdings nicht beim Grand-Slam-Turnier, sondern im Rahmen von Olympia.

2016: Williams schließt zu Graf auf

Serena Williams setzte mit ihrem Zweisatzerfolg im Finale über Angelique Kerber einen weiteren Meilenstein ihrer unvergleichlichen Karriere. Die US-Amerikanerin feierte ihren siebenten Triumph an der Church Road und erhöhte ihr Konto bei Grand-Slam-Titeln auf 22 – damit zog sie mit dem Open-Era-Rekord von Graf gleich. Nebenbei holte sie die Nummer-eins-Position zurück und verbrachte die 300. Woche auf dem Tennisthron.

2019: Djokovic gewinnt Rekordfinale

Lange hatte man diskutiert, heuer war es endlich so weit: Um Monsterpartien wie jene von Isner gegen Mahut (siehe oben) zu verhindern, beschloss das Organisationskomitee, dass im letzten Satz bei 12:12 ein Tiebreak über den Sieger entscheidet. Was niemand ahnen konnte: Diese Regel kam ausgerechnet im Endspiel erstmals zur Anwendung. Djokovic wehrte bei 7:8 im fünften Satz zwei Matchbälle ab und hatte im Tiebreak mit 7/3 den längeren Atem – vier Stunden und 58 Minuten dauerte dieses längste aller Wimbledon-Endspiele.