Am 8. Februar 1936 ging im Ritz-Carlton-Hotel von Philadelphia auf Anregung von Bert Bell der erste Draft über die Bühne. Der damalige Mitbesitzer der Philadelphia Eagles und spätere Commissioner der NFL wollte mit der Maßnahme Chancengleichheit in der Liga herstellen. Jay Berwanger wurde schließlich von den Eagles, dem schlechtesten Team der Vorsaison, als erster Spieler der Geschichte gedraftet, verzichtete aber auf eine Profikarriere als Football-Spieler.
Seit damals hat sich am Prozedere wenig geändert. Das Team mit der schlechtesten Bilanz der Vorsaison darf als Erstes wählen, der aktuelle Titelverteidiger ist als letztes Team an der Reihe – eine Änderung der Draft-Rechte im Zuge von Spielertransfers ausgenommen. Der erste Pick liegt am Donnerstag heuer bei den Cincinnati Bengals, die es vergangene Saison bei 14 Niederlagen nur auf zwei Siege brachten. Die Kansas City Chiefs treffen als Meister 2019/20 als 32. und letztes Team in den meisten der sieben Runden ihre Wahl.
Videokonferenz statt Spektakel
Im Vorjahr wurde Kyler Murray noch auf einer Bühne im Zentrum von Nashville im US-Bundesstaat Tennessee vor Tausenden Zuschauern von den Arizona Cardinals als Nummer eins präsentiert. Sein Nachfolger wird heuer nur via Videokonferenz zugeschaltet werden, nachdem das Coronavirus der NFL einen fetten Strich durch die Rechnung machte – und das augerechnet in dem Jahr, in dem die Glücksspielmetrople Las Vegas den schillernden Rahmen für das Draft-Spektakel gebildet hätte.
Aufgrund der Pandemie wurden alle Veranstaltungen rund um den Draft abgesagt. NFL-Commissioner Roger Goodelll wird daher den ersten Pick der Bengals zu Hause im Rahmen einer privaten „Kellerparty“ daheim in Bronxville im US-Bundesstaat New York verkünden. Die Teamverantwortlichen sowie ihre quer über die USA verteilten, ausgewählten Spieler werden ebenfalls zugeschaltet. Dazu kommen die traditionellen Meinungen und Analysen der Experten.
Ein technischer Drahtseilakt auch für das hauseigene NFL Network und den TV-Sender „ESPN“. US-Medien berichten davon, dass teilweise IT-Techniker in den Einfahrten der Trainer und Manager campen, um bei einem Problem sofort reagieren zu können. Der General Manager der Seattle Seahawks soll sogar zwei Wände eingerissen haben, um Platz zu schaffen für die angeblich 25 Bildschirme, die er braucht. Und natürlich gibt es Notstromaggregate, mehrere Handys und das gute alte Festnetztelefon.
Deja-vu für Cincinnati?
Ungeachtet der Coronavirus-Krise und der Ungewissheit, ob und wie die nächste NFL-Saison über die Bühne gehen kann, spekulieren Experten und Fans bereits seit Monaten, wer von den Bengals das Trikot mit der Nummer eins überreicht bekommt. Zuletzt durfte Cincinnati 2003 als erstes Team wählen. Damals entschied sich der zweifache Super-Bowl-Finalist für Quarterback Carson Palmer, der das Team zwar nicht zu Titeln, aber doch zu neuen Höhenflügen führte.
In einem sind sich die Draft-Analysten einig: Die Geschichte wird sich 17 Jahre später wiederholen, und die Bengals werden nach einer verkorksten Saison mit einem frischen Quarterback einen Neustart angehen. Als Erster wird meist der Name Joe Burrow genannt. Der 23-Jährige führte im vergangenen Jahr die Louisiana State University, besser bekannt unter dem Kürzel LSU, zum nationalen College-Titel und staubte auch die Heisman Trophy für den besten Spieler der Universitätsligen ab.
Als heißer Kandidat galt lange auch Tua Tagovailoa. Der 22-Jährige führte 2017 die Alabama Crimson Tide als Freshman, sprich im ersten Semester, mit einem furiosen Comeback zum Titel gegen die Georgia Bulldogs. Vergangene Saison warf der Hawaiianer in neun Spielen mit einer beeindruckenden Passquote von knapp 72 Prozent 33 Touchdowns und nur drei Interceptions. Tagovailoa verletzte sich allerdings im November schwer an der Hüfte und musste operiert werden. Ein Umstand, der seinen Marktwert getrübt haben könnte, auch wenn der 22-Jährige versuchte, mit Videos seine Fitness unter Beweis zu stellen. Eine medizinische Untersuchung durch die Teamärzte war aufgrund der CoV-Krise nicht möglich.
Topverteidiger und -Receiver zur Wahl
Auf einen frühen Auftritt auf der virtuellen Draft-Bühne dürfen sich laut Experten auch heuer wieder einige Verteidiger einstellen. Allen voran Defensive End Chase Young. Der 21-Jährige, der 120 kg Muskelmasse auf 1,96 m Größe verteilt, spielte für Ohio State im Vorjahr mit 16,5 Quarterback-Sacks und sechs erzwungenen Ballverlusten eine der besten Saisonen der College-Geschichte. Für viele Analysten gilt Young als bester verfügbarer Spieler überhaupt. Dass ihn spätestens die Detroit Lions als Nummer drei an Land ziehen, ist für die meisten Beobachter ausgemacht.
Besonders reizvoll ist die diesjährige Draft-Klasse laut Experten für alle jene Teams, bei denen es auf der Position des Widereceivers dünn ausschaut. Denn gleich drei Passempfängern werden gute Chancen eingeräumt, spätestens nach den ersten 15 Teams vom Tisch zu sein. Cedarian „CeeDee“ Lamb fing vergangene Saison 14 Touchdowns für die Oklahoma Sooners und wird mit aktuellen NFL-Stars wie DeAndre Hopkins auf eine Stufe gestellt. Der wie Lamb 20-jährige Jerry Jeudy von Alabama gilt ebenfalls als Vorzeige-Receiver der Zukunft. Hoch gehandelt wird auch Jeudys ein Jahr älterer Teamkollege Henry Ruggs III, der dank seiner Schnelligkeit Erinnerungen an „Rakete“ Tyreek Hill von Champions Kansas City weckt.
Spendensammeln für Pandemiebekämpfung
Der erste virtuelle Draft der NFL-Geschichte steht aber nicht nur aufgrund seiner Durchführung im Zeichen der Coronavirus-Krise. Gleichzeitig mit der Auswahl der Spieler werden im Rahmen des Drafts Spenden zur Unterstützung des Kampfes gegen die Ausbreitung der Pandemie gesammelt. Der „Draft-A-Thon“ soll Geld für das Rote Kreuz und Einrichtungen, die Menschen mit Essen versorgen, einbringen. Aktuelle und ehemalige NFL-Spieler sollen während des Drafts für Spenden werben.
„Wir sind in der Zeit, in der wir gemeinsam gegen die weltweite Krise kämpfen, unglaublich dankbar für den Einsatz der Menschen im Gesundheitswesen und der vielen anderen, die Notleidenden helfen“, so NFL-Boss Goodell, „der Draft-A-Thon soll allen Betroffenen und denen, die an vorderster Front kämpfen, die notwendige finanzielle Unterstützung geben.“ Die Aktion wurde bereits einige Tage vor der ersten Draft-Runde am Donnerstagabend gestartet. Stand Mittwoch waren bereits über 270.000 Dollar gesammelt.