Schon alleine die Vergabe der dritten Olympischen Spiele der Neuzeit an die Großstadt am Mississippi, die heutige Touristen vor allem mit dem 192 Meter hohen Gateway Arch lockt, fällt in die Kategorie ungewöhnlich. Ursprünglich war Chicago als Veranstalter vorgesehen. Da die Stadtväter gleichzeitig aber die Weltausstellung ausrichten sollten, wehrten sie sich erfolgreich gegen den Plan, ein zusätzliches Großereignis nur rund 480 km entfernt auszutragen. Die olympischen Bewerbe wurden daher in die Weltausstellung integriert.
Mit dem heutigen, fernsehtauglichen Spektakel hatte St. Louis 1904 fast nichts gemein. Statt 16 Tagen dauerten die Spiele vom 1. Juli bis zum 23. November. Das Francis Field, wo ein Großteil der Bewerbe stattfand, verdiente weder damals noch heute die Bezeichnung Olympiastadion. Auch das Teilnehmerfeld war überschaubar. 651 Sportler traten in 95 Bewerben in 16 Sportarten – darunter auch Tauziehen – an. Zum Vergleich: In Tokio werden rund 11.000 Sportlerinnen und Sportler in 339 Bewerben in 33 Sportarten um Gold, Silber und Bronze kämpfen. Detail am Rande: Medaillen für die ersten drei wurden erstmals in St. Louis vergeben.
Die Spiele im aus damaliger Sicht abgelegenen St. Louis hatten auch mehr den Charakter von US-Meisterschaften. 526 Starter kamen aus dem Veranstalterland. Dazu durften die sechs offiziell gelisteten Frauen nur im Bogenschießen starten. Kein Wunder, dass die USA 78 von 96 Goldenen abräumten. Immerhin waren aus dem damaligen Österreich-Ungarn sechs Athleten mit dabei, zwei davon kamen aus dem österreichischen Teil der Monarchie. Otto Wahle gewann Bronze im Schwimmen, und Turner Julius Lenhart räumte sogar zweimal Gold und einmal Silber ab. Allerdings zählte Lenharts Ausbeute zur US-Statistik. Der Wiener startete für die Philadelphia Turngemeinde und zählte auch ohne US-Staatsbürgerschaft als Lokalmatador.
Betrug bei extremer Hitze
Beim Marathon am 30. August 1904 war kein Österreicher am Start. Den Großteil der 32 Teilnehmer stellten die USA. Allerdings sahen nur 14 Starter das Ziel. Die übrigen Teilnehmer wurden Opfer der widrigen Umstände. Anders als heutzutage, wo der olympische Marathon am frühen Morgen gestartet wird, begann der Lauf in St. Louis bei Temperaturen von 32 Grad Celsius erst am Nachmittag. Viele Läufer mussten auf den staubigen Straßen des hügeligen Kurses in und um St. Louis aufgeben, auch weil nur eine Trinkstation zur Verfügung stand. Die Distanz zu Gold betrug übrigens noch nicht wie später festgelegt 42,195 km, sondern rund 40 km.
Die Goldmedaille wurde letztlich Thomas Hicks umgehängt, als Erster die Ziellinie überquert hatte der Amerikaner aber nicht. Denn sein Landsmann Frederick Lorz war deutlich schneller im Francis Field. Der vermeintliche Lauf zu Gold hatte aber nur einen Makel: Lorz hatte sich nach Krämpfen mehrere Kilometer mit einem Auto chauffieren lassen. Anstatt der damals aus reinem Gold gefertigten Plakette für den Sieger erhielt der 20-Jährige die Disqualifikation. Lorz konnte aber auch ehrlich ein Rennen gewinnen, wie der bereits 1914 verstorbene „Olympia-Schwindler“ 1905 mit seinem Sieg beim prestigeträchtigen Boston-Marathon bewies.
Dass Hicks überhaupt von Lorz’ Betrug profitieren konnte, gleicht übrigens einem kleinen Wunder. Denn der 30-Jährige erhielt bei der brütenden Hitze von seinen Trainern nichts zu trinken, sondern durfte sich den Mund nur mit Wasser ausspülen. Dafür erhielt Hicks einen Aufputschcocktail aus Strychnin und Eiklar. Um die Wirkung zu verstärken, wurde dem Läufer unterwegs auch mehrmals Brandy kredenzt. Kein Wunder, dass Hicks im Ziel nicht nur von Krämpfen, sondern auch von Halluzinationen geplagt wurde. Trotzdem war er in 3:28:53 Minuten noch um fast sieben bzw. 20 Minuten schneller als seine Landsleute Albert Corey und Arthur Newton.
Faule Früchte und wilde Hunde
Auch sonst lesen sich die überlieferten Geschichten des ersten olympischen Marathons in Übersee wie das Drehbuch einer Slapstick-Komödie. So soll der per Autostopp aus New Orleans angereiste Kubaner Andarin Carvajal in Straßenbekleidung gelaufen sein. Um dennoch sportlich zu erscheinen, schnitt sich der hauptberufliche Briefträger einfach seine Hosenbeine ab. Während des Laufes musste sich Carvajal auch noch mit Magenproblemen herumschlagen, nachdem er sich mit verdorbenen Früchten am Straßenrand gestärkt hatte. Trotzdem erreichte der 29-jährige Kubaner als Vierter das Ziel.
Carvajal gehörte laut Rennbericht der Associated Press von vor 116 Jahren zum kleinen Kreis der internationalen Starter. Neben dem Kubaner waren noch neun Griechen, ein Franzose und drei Südafrikaner am Start. Von den Letztgenannten wurden zwei – Len Tau und Jan Mashiani – aber nicht mit ihrer Staatsangehörigkeit, sondern nur mit einem diskriminierenden Hinweis auf ihre Hautfarbe in den Bericht aufgenommen. Anders als ihr weißer Landsmann Bertie Harries beendete das Duo als Neunter bzw. Zwölfter das Rennen. Der neuntplatzierte Tau verpasste nur aufgrund eines unfreiwilligen Umwegs eine bessere Platzierung: Streunende Hunde hatten den Afrikaner in ein Feld gejagt.