Urs Kryenbuehl
Reuters/Leonhard Foeger
Ski alpin

Streif-Zielsprung erneut in der Kritik

Die vermeintlich „handzahme“ Streif hat beim ersten von zwei Abfahrten am Freitag alle Experten eines Besseren belehrt. Mit dem Amerikaner Ryan Cochran-Siegle und Urs Kryenbühl aus der Schweiz wurden zwei Topfahrer der vergangenen Rennen brutal abgeworfen. Vor allem nach dem „Köpfler“ von Kryenbühl beim Zielsprung sparten die Athleten nicht an Kritik an den Veranstaltern. Denn schon nach dem ersten Training hatte sich die Fahrer für eine Entschärfung ausgesprochen.

Bei der Fahrt der Nummer 17 beim Ersatzrennen für die abgesagte Lauberhorn-Abfahrt stockte nicht nur den TV-Zuschauern, sondern auch dem im Ziel wartenden Führenden Beat Feuz der Atem. Der Schweizer musste mit ansehen, wie sein Landsmann Kryenbühl beim Zielsprung bei über 140 km/h aus hohem Luftstand nach vorne kopfüber auf der harten Piste aufschlug und bewusstlos ins Ziel rutschte. Der 26-Jährige erlangte zwar kurz darauf wieder das Bewusstsein und war ansprechbar, wurde nach langer Erstversorgung aber sofort mit dem Hubschrauber ins Spital geflogen.

Einer ersten vom Schweizer Verband auf dem Kurznachrichtendienst Twitter vermeldeten Diagnose zufolge zog sich Kryenbühl bei seinem Sturz zwar wie befürchtet schwere Verletzungen zu, seine Wirbelsäule blieb jedoch offenbar von schweren Blessuren verschont. Der 26-Jährige erlitt laut Swiss Ski eine Gehirnerschütterung, einen Bruch des rechten Schlüsselbeines sowie einen Riss des Kreuz- und Innenbandes im rechten Knie.

Abtransport des gestürzten Schweizers Urs Kryenbühl
APA/Helmut Fohringer
Kryenbühl wurde aus dem Zielraum zur weiteren Behandlung ins Spital geflogen

Cochran-Siegle, der in diesem Winter vor dem Jahreswechsel den Super-G in Bormio gewonnen hatte, geriet in der Traverse nach dem Hausberg in Rückenlage und wurde mit dem Oberkörper voran ins Fangnetz geschleudert. Durch die Wucht des Aufpralls wurde die Streckenbegrenzung aus der Verankerung gerissen. Auch der 28-Jährige, der über Schmerzen in der Schulter klagte, wurde mit dem Hubschrauber abtransportiert – die Standardprozedur auf der Streif. Cochran-Siegle erlitt laut US-Verband eine leichte Halswirbelfraktur, abgesehen davon gehe es ihm gut. Die Abfahrt am Samstag sowie den Super-G am Sonntag werde Cochron-Siegle jedoch auslassen.

Lange Reihe an fatalen Stürzen

Kryenbühls Sturz war nur einer in einer Reihe von fatalen Stürzen beim tückischen Zielsprung. Der Schweizer Daniel Albrecht war im Abschlusstraining 2009 derart heftig mit dem Rücken und dem Hinterkopf aufgeschlagen, dass er mit einem Schädel-Hirn-Trauma mehr als drei Wochen im künstlichen Tiefschlaf lag. Albrecht erholte sich von dem Sturz nie mehr wirklich. Ein Comebackversuch 22 Monate nach dem schweren Sturz scheiterte. Ein Jahr vor Albrecht war der US-Amerikaner Scott McCartney an gleicher Stelle ähnlich ausgehoben worden.

Aus Sicht der Fahrer hätte es aber heuer gar nicht so weit kommen dürfen. Denn schon vor dem Unfall Kryenbühls gab es am Donnerstag im Abschlusstraining einen Schockmoment. Der Franzose Johan Clarey wurde bei seinem weiten Flug in der Luft verdreht und wurde anschließend ungebremst in die Fangzäune geschleudert. Der 40-Jährige kam im Gegensatz zu Kryenbühl allerdings mit blauen Flecken davon und kam am Freitag im Rennen sogar als Vierter in die Wertung.

Feuz gewinnt turbulente Kitz-Abfahrt

Der Schweizer Beat Feuz gewann am Freitag beim turbulenten und von zwei schweren Stürzen überschatteten Auftakt der Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel die erste Abfahrt.

„Seit drei Tagen ein Thema“

„Der Zielsprung ist schon seit drei Tagen ein Thema. Er geht einfach zu weit“, ärgerte sich daher auch Sieger Feuz im ORF-Interview darüber, dass die Organisatoren auf die Hinweise der Fahrer nicht genug reagiert hätten. „Ich bin auch 60, 70 Meter weit gesegelt. Das muss nicht sein und soll nicht sein“, sagte der 33-Jährige, der bereits beim Seidlalm-Sprung im Mittelteil einen extremen Luftstand gehabt hatte. „Ich habe einen guten Einblick auf die Terrasse gehabt“, so Feuz.

Beat Feuz
AP/Giovanni Auletta
Auch Sieger Feuz flog beim heuer mächtigen Zielsprung beinahe bis ins Ziel

Der Routinier kritisierte, dass nach den Problemen im Training nicht genug reagiert wurde. „Dass im Training die Athleten nicht mit der tiefsten Hocke zum Zielsprung fahren, ist auch nichts Neues. Und am Renntag wurde die tiefe Hocke ausgepackt. 148, glaube ich, Topgeschwindigkeit ist nach zwei Minuten sehr schnell. Wenn dann ein Sprung leicht bergauf geht, wird das sofort gefährlich“, sagte Feuz.

Matthias Mayer, der von Feuz um 16 Hundertstel auf Platz zwei verwiesen wurde, schlug in die gleiche Kerbe. „Ich finde nicht o. k., dass die den Zielsprung nicht niedriger gemacht haben. Obwohl sich alle Läufer gestern dafür ausgesprochen haben“, sagte der Kärntner, der sich so wie Feuz dafür aussprach, den Sprung mittels Aufschüttung der Kompression davor etwas zu entschärfen. Die Organisatoren reagierten auf die Kritik und ließen den Zielsprung noch am Freitagabend maschinell abtragen.

FIS bedauert Sturz

Emmanuel Couder und Hannes Trinkl, die als Duo den mit dem Coronavirus infizierten Markus Waldner in der Rolle des Chefrenndirektors des Internationalen Skiverbands (FIS) bei den Hahnenkamm-Rennen vertreten, bedauerten den folgenreichen Sturz. „Wir wissen, dass sich die Strecke von einem Tag auf den anderen ändern kann. Wir haben nachgearbeitet, aber es kam der Wind dazu, der Speed war extrem hoch, viel höher als in der Vergangenheit“, sagte Couder. „Es tut mir sehr leid. Das ist genau das, was wir nicht in der Abfahrt wollen. Wir werden alles versuchen, um in den nächsten Tagen sichere Rennen zu haben“, so Trinkl.

Die Debatte um die letzte Schlüsselstelle auf der gefährlichsten Abfahrt der Welt ist nicht neu. Immer wieder steht der von vielen unterschätzte Zielsprung bei Höchstgeschwindigkeit in der Kritik. Freitag-Sieger Feuz sprach sich zumindest dafür aus, dass der Sprung Teil der legendären Strecke mit Mausefalle, Steilhang und Hausbergkante bleibt. „Ein Zielsprung gehört dazu, aber er muss nicht 60 Meter weit sein und vor allem so hoch“, sagte der Schweizer.

Durchpeitschen geht gut

Auch abseits der Stürze war das Rennen chaotisch. Rückenwind in der Traverse, der teilweise in Böen daherkam, hatte die Rennleitung zu weiteren Unterbrechungen gezwungen. Erst nach rund drei Stunden waren 30 Läufer vom Start gegangen und der Premierensieg von Feuz kam offiziell in die Wertung. Der Schweizer bedankte sich daher auch vor allem bei ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel, der laut Feuz die treibende Kraft hinter der Fortsetzung war. Am Ende mussten alle Verantwortlichen aber froh sein, dass beim Versuch, das Rennen bei immer schlechterer Sicht durchzupeitschen, kein weiterer Athlet zu Sturz kam.

Am Samstag steht nun die klassische Hahnenkamm-Abfahrt (11.30 Uhr, live in ORF1) auf dem Programm. Mit einem Super-G am Sonntag (10.20 Uhr) werden die Hahnenkamm-Rennen 2020 abgeschlossen. Die Fahrer müssen sich dabei wieder auf neue Verhältnisse einstellen. Denn in der Nacht sind für den Raum Kitzbühel Schneefälle angesagt. Egal, wie sich Piste und Zielsprung dann präsentieren, auf der Streif gilt laut Olympiasieger Mayer immer das gleiche Motto: „Man muss sehr konzentriert bleiben. Man hat heute gesehen, wie schnell es gehen kann“, sagte der 30-Jährige im ORF.