Englands Temachef Gareth Southgate, 1996
picturedesk.com/PA/Neil Munns
Fußball-EM

England und sein deutsches Trauma

Am Dienstag (18.00 Uhr, live in ORF1) wird die Geschichte einer der legendärsten Rivalitäten der Fußballgeschichte um ein Kapitel reicher. Bereits im Achtelfinale der EM 2021 kommt es im Londoner Wembley-Stadion zum Schlager England gegen Deutschland. Den Blick in die Geschichtsbücher fürchten vor dem prestigeträchtigen Duell vor allem die Männer von der Insel. Seit 1975 haben die „Three Lions“ nämlich kein Heimspiel mehr gegen die Deutschen gewonnen.

Es scheint, als läge ein sportlicher Fluch auf englischen Partien gegen Deutschland auf heimischem Boden, seit England sich 1966 im Vorläufer des aktuellen Wembley-Stadions auch dank eines bis heute umstrittenen Treffers von Geoff Hurst zum bisher einzigen Mal zum Weltmeister krönte. Das Wembley-Tor, bei dem der Ball von der Querlatte abprallte und je nach Sichtweise vor oder hinter der Torlinie aufschlug, scheint den Engländern noch heute nachzuhängen.

Denn neunmal kam es seit 1966 in London zum Duell zwischen England und Deutschland – und siebenmal verließen die Gastgeber ihre Arena mit hängenden Köpfen. Der einzige Heimsieg war das 2:0 am 12. März 1975 – in einem bedeutungslosen Testspiel. Auch die letzte Partie im alten Wembley im Rahmen der Qualifikation für das WM-Turnier 2002 ging an die Deutschen. Damals vermasselte Dietmar Hamann den „Lions“ ihren Abschied von der Arena mit den zwei markanten Türmen.

Spannung vor Duell England – Deutschland

England und Deutschland spielen am Dienstag um den Einzug ins EM-Viertelfinale. Obwohl die Statistik für einen Sieg der Deutschen spricht, werden die Engländer durch ein mögliches Finale im eigenen Land motiviert.

Vier Niederlagen in K.-o.-Duellen

Um den Aberglauben auf die Spitze zu treiben, spricht auch die Bilanz bei Endrunden klar für Deutschland. Denn vor allem bei Aufeinandertreffen außerhalb der Gruppenphase gab es für die Engländer bisher nichts zu holen. Die jüngsten vier K.-o.-Duelle gingen an den vierfachen Weltmeister. Sprich: Seit 55 Jahren hat England bei großen Turnieren jedes dieser Alles-oder-nichts-Spiele gegen den Erzrivalen verloren.

Englands Temachef Gareth Southgate, 1996
Reuters/Action Images
Der aktuelle Teamchef Southgate war 1996 im Elfmeterschießen noch der Pechvogel

Je näher die Partie rückt, desto rauer und hektischer wird der Ton auf der Insel. Die Gazetten drucken „Listen der Erniedrigungen“ gegen Deutschland ab und erinnern dabei etwa an das verlorene Elfmeterschießen im WM-Halbfinale 1990 und im EM-Halbfinale 1996, als Englands heutiger Coach Gareth Southgate im Duell mit Deutschlands Tormann Andreas Köpke die Nerven versagten. Oder an das WM-Achtelfinale 2010, als ein Schuss von Frank Lampard von der Unterkante der Latte klar hinter der Torlinie aufschlug – nur der Schiedsrichter sah es nicht und hatte damals auch keinen Videoassistenten zur Seite. Am Ende gewann Deutschland mit 4:1.

Fußball-EM, Achtelfinale

Beginn 18.00 Uhr (live in ORF1):

England – Deutschland

London, SR Makkelie (NED)

Mögliche Aufstellungen:

England: Pickford – Walker , Stones, Maguire, Shaw – Phillips, Henderson, Grealish – Saka, Kane, Sterling

Deutschland: Neuer – Ginter, Hummels, Rüdiger – Kimmich, Goretzka, Kroos, Gosens – Havertz, Gnabry, Müller

England bereit für neues Kapitel

Der schwarzen Serie soll im neuen Wembley-Stadion nun ein Ende gesetzt werden. „Diese Mannschaft kann mit diesem Spiel Geschichte schreiben und den Menschen für die Zukunft Erinnerungen an Duelle zwischen Deutschland und England mitgeben, die anders sind als die, mit denen sie in den letzten Tagen überflutet worden sind“, sagte Southgate. Im Team wird die Historie kleingehalten. Die aufgezählten Niederlagen hätten „überhaupt keine Bedeutung, weil sie da noch nicht mal geboren waren“, sagte Southgate.

Seine Spieler geben dem Teamchef recht. „Ich war erst elf, als das Tor von Lampard nicht gegeben wurde. Das ist meine Haupterinnerung an die Geschichte zwischen England und Deutschland“, so Declan Rice. Auch für Mittelfeldspieler Kalvin Phillips zählt nur das Hier und Jetzt. „Ob wir vor Jahren gegen Deutschland mal gut oder schlecht waren, spielt keine Rolle. Es geht darum, wie wir am Dienstag spielen“, sagte der Mann von Leeds United. Kapitän Harry Kane betonte, man habe „viele Spieler mit großem Selbstbewusstsein“.

Apropos Selbstvertrauen: Kane selbst konnte in der Vorrunde kaum welches tanken. Denn der Scorerkönig der WM 2018 wartet bei der EM 2021 noch auf seinen ersten Treffer. Dabei könnten Tore des bereits 34-fachen Länderspieltorschützen einiges dazu beitragen, um die schwarze englische Serie zu beenden. Die gute Nachricht: Liverpools Jordan Henderson soll fit genug für seinen ersten Startelfeinsatz im laufenden Turnier sein. Ansonsten dürfte Southgate vor allem defensiv nicht viel verändern: Denn die Engländer sind bei der EM noch ohne Gegentor – und das soll auch gegen Deutschland so bleiben.

DFB-Coach versteht Kritik nicht

Dass die Engländer ihre eigene Geschichte am Dienstag tatsächlich ausblenden können, glaubt man hingegen im deutschen Lager nicht. „Die Engländer versuchen, sich ein bisschen Selbstbewusstsein einzureden“, mutmaßte der wiedergenese Thomas Müller, der noch immer seinem erstes Tor bei einer EM-Endrunde überhaupt nachjagt. Das hinderte den 31-Jährigen aber nicht daran hinzuzufügen: „Wir wollen natürlich immer wieder in diese englische Turnierwunde reinstechen.“

Bundestrainer Joachim Löw mit seiner Mannschaft
APA/dpa/Federico Gambarini
Löw und seine Truppe wollen die stolze Serie gegen England fortsetzen

Doch auch auf der Gegenseite werden unrühmliche Serien betont, die noch dazu viel aktueller sind. Etwa, dass die Mannschaft von Joachim Löw mittlerweile bei sieben Turnierspielen in Serie mit 0:1 in Rückstand geraten ist. Ein damit konfrontierter Manuel Neuer meinte im „kicker“: „Für mich hört sich das alles etwas negativ an, wie wir hier gerade nach dem Einzug ins Achtelfinale und vor einem Duell mit England sprechen. Für mich ist das bislang kein schlechtes Turnier von uns.“ Der Goalie forderte: „Jetzt entscheidet jede Kleinigkeit, da müssen wir hellwach sein. Eine stabile Defensive ist jetzt elementar wichtig für unser Spiel.“

Verlockend ist der weitere Turnierpfad. Die Niederlande sind ausgeschieden, der Viertelfinal-Gegner heißt Schweden oder Ukraine, danach Tschechien oder Dänemark im Halbfinale. Der ganz große Name würde erst wieder im Finale lauern. Vorerst gilt die Konzentration aber dem Duell in London. „Das sind zwei große Fußballnationen, das wird hoffentlich ein Leckerbissen“, sagte Müller. Immerhin in einer Statistik haben die Engländer die Nase vorne: Das bisher letzte Duell mit Deutschland bei der EM 2000 in der Gruppenphase entschieden die „Three Lions“ dank Alan Shearer mit 1:0 für sich. Geholfen hatte der Sieg ihnen damals aber nicht, denn England schied so wie Deutschland in der Vorrunde aus.