Fußball-EM

Mbappe „versagt“ bei Schweizer Märchen

Das bisher wohl spektakulärste Spiel der EM-Endrunde 2021 Montagnacht im Bukarester Nationalstadion zwischen der Schweiz und Frankreich hatte kurz vor 1.00 Uhr (Ortszeit) zwei Hauptdarsteller: Während Torhüter Yann Sommer im Elfmeterschießen zum sportlichen Helden der Eidgenossen wurde, mutierte der französische Superstar Kylian Mbappe zur tragischen Figur. „Ich wollte dem Team helfen, aber ich habe versagt“, so der 22-Jährige, der damit der Schweiz ein sportliches Märchen bescherte.

Im einsamen Moment nach dem Ende des Elfmeterthrillers erinnerte Mbappe viele an seinen Vorgänger in der „Equipe Tricolore“ Zinedine Zidane. Mit gesenktem Kopf verließ der Jungstar von Paris Saint-Germain den Platz der Arena Nationala, in dem die Schweizer Fußballer feierten. Wie einst auf Zidane, der nach einem Kopfstoß gegen Marco Matterazzi im verlorenen WM-Finale 2006 gegen Italien mit Rot vom Platz geflogen war, lastete der französische Schmerz auf ihm allein.

Im hochdramatischen Achtelfinale von Bukarest, bei dem die Franzosen zunächst einen 0:1-Rückstand in einen komfortablen 3:1-Vorsprung umdrehten, diesen gegen aufopfernd kämpfende Schweizer aber wieder aus der Hand gaben, war es ausgerechnet Mbappe, der den entscheidenden Elfmeter vergab. Das Ausnahmetalent reihte sich damit in eine berühmte Reihe ein. So hatte etwa Italiens damaliger Superstar Roberto Baggio im WM-Finale 1994 gegen Brasilien den entscheidenden Elfer verschossen. Auch die englische Ikone David Beckham war mit einem verschossenen Elfmeter im EM-Viertelfinale 2004 gegen Portugal einer der tragischen Helden.

Im französischen Starensemble, das als Favorit in das Turnier gegangen war, ragt der Pariser noch einmal heraus. Dass er als letzter französischer Schütze antrat, war also nur folgerichtig. Doch im entscheidenden Moment lieferte der Franzose nicht ab. „Das Einschlafen wird schwierig sein, aber leider sind es die Höhen und Tiefen dieses Sports, die ich so sehr liebe“, schrieb Mbappe – oder einer seiner Gefolgsleute in seinem Auftrag – und erzählte von „immenser Traurigkeit“. Nun sei es wichtig, „noch stärker aufzustehen“.

Frankreich leckt seine Wunden

Zidanes Gang im Berliner WM-Endspiel mit gesenktem Kopf am goldenen Pokal vorbei war sein letzter als Nationalspieler. Der damals 34-Jährige beendete danach seine Karriere. Davon ist Mbappe noch weit entfernt. „Halte den Kopf hoch, Kylian. Morgen wird der erste Tag einer neuen Reise“, twitterte Brasiliens Weltstar Pele (80) bereits. „Null Tore und ein grausames Ende“, hielt dagegen die Zeitung „Le Parisien“ dem 22-Jährigen seine deprimierende EM-Bilanz vor.

Trainer Didier Deschamps, der mit Zidane 1998 Welt- und 2000 Europameister geworden war, hatte noch zaghaft versucht, Mbappe bei dessen schwerem Gang vom Rasen zu trösten. „Er weiß natürlich um seine Verantwortung“, berichtete der Coach. „Er wollte diesen Elfmeter schießen.“ Erste Fragen nach einem Bruch im Team wies der 52-Jährige sofort zurück: „Die Mannschaft ist vereint. Es ist eine einzigartige Mannschaft, heute ist sie am Boden – aber vereint.“

Trainer Didier Deschamps und Spieler nach der Niederlage gegen die Schweiz.
APA/AFP/Franck Fife
Frankreichs Teamchef Deschamps musste seine Spieler nach der Pleite aufrichten

Dennoch erinnerte Frankreich in keiner Phase an jene Equipe beim WM-Titel vor drei Jahren. Nach dem 1:0 im ersten Gruppenspiel gegen Deutschland folgten zwei Remis gegen Ungarn sowie Portugal – dann kam die Schweiz, die vielleicht auch eine kleine Phase der Überheblichkeit nach der 3:1-Führung ausnutzte. „Wenn Frankreich gewinnt, sind wir die Besten der Welt, und wenn wir verlieren, ist es meine Verantwortung“, stellte sich Deschamps schützend vor seine Spieler. Nach Rücktritt klangen seine Aussagen nicht. Das Aus „wird uns allen helfen“, sagte er und machte vielmehr Mut. Es sei „grausam“, im Elfmeterschießen auszuscheiden. Aber „auch wenn es ein enttäuschender Moment ist, wir halten zusammen“.

Historische Sommer-Parade

Der Zusammenhalt der Mannschaft war auch einer Haupttrümpfe der Schweiz nach dem 1:3-Rückstand. Denn die Eidgenossen gaben auch mit einem Bein im Urlaub nicht auf und bestraften die Franzosen mit zwei schnörkellosen Angriffen für ihre Nachlässigkeit. Der Lohn für den Kampfgeist folgte in Form des ersten Viertelfinal-Einzugs bei einer EM-Endrunde. „Wir haben Geschichte geschrieben“, jubelte Kapitän Granit Xhaka, der mit einem perfekten Pass in den Lauf von Mario Gavranovic in der 90. Minute das 3:3 einleitete. Anstatt das Viertelfinale vor dem TV-Gerät anschauen zu müssen, stehen Xhaka und seine „Nati“-Kollegen nun am Freitag (18.00 Uhr, live in ORF1) in St. Petersburg gegen Spanien auf dem Platz.

Der schweizer Torwart Yann Sommer jublet zusammen mit Teamkollegen.
APA/AFP/Justin Setterfield
Nicht nur Torhüter Sommer schrie seine Freude über den Aufstieg in die nächste Runde in den Bukarester Nachthimmel

Die entscheidende Aktion lieferte im Elferschießen aber Torhüter Sommer, auf den sich kommende Saison auch Trainer Adi Hütter bei Borussia Mönchengladbach verlassen kann. „Ich stehe noch ein bisschen neben mir“, sagte der 32-Jährige, dessen Nachname wenig überraschend schnell von vielen Medien in das Wortspiel „Sommer-Märchen“ eingebunden wurde: „Es war ein unglaublicher Fußballabend. Ich bin unglaublich stolz auf die Mannschaft“, so der Schlussmann, der seine Heldentat und den damit verbundenen Aufstieg ins Viertelfinale im ersten Moment gar nicht realisierte.

Schweiz feiert Sensation

Im Elfmeterschießen setzt sich die Schweiz gegen Weltmeister Frankreich durch und steigt in das Viertelfinale der Europameisterschaft auf. Die Freude im Nachbarland ist grenzenlos.

In der Schweiz überschlugen sich die Medien. Die Nachrichtenagentur Keystone-SDA begann ihre Blitzmeldung mit: „Wahnsinn!“ Die Boulevardzeitung „Blick“ schrieb: „Sommer hext die Nati in den EM-Viertelfinal“. Die ehrwürdige „Neue Zürcher Zeitung“ nannte die Nacht eine „der denkwürdigsten“ der Schweizer Fußballgeschichte. Und tatsächlich spricht viel dafür, dass es der größte Sieg einer Schweizer Fußballnationalmannschaft in der 126-jährigen Geschichte des eidgenössischen Verbandes gewesen sein könnte.

Friseuraufreger ist vergessen

Dabei hatte die EM für die Schweizer noch mit starken Störgeräuschen begonnen. Nach dem bescheidenen 1:1 im ersten Gruppenspiel gegen Wales hatte noch der Besuch eines Friseurs im Teamquartier der Schweizer eine etwas bizarre Diskussion ausgelöst. Im Mittelpunkt: eben Xhaka sowie Dortmund-Profi Manuel Akanji, die ihren Haaren eine Blondierung gegönnt hatten. Die Frage, wieso die Spieler keine anderen Sorgen hätten, als in Pandemiezeiten einen Coiffeur einzuladen, beschäftigte das Land tagelang.

Doch nun ist das alles vergessen. Der immense Freudentaumel spülte den Wirbel um die Blondierungscreme hinweg. „Es war ein unglaublich schönes Gefühl“, sagte Xherdan Shaqiri über den entscheidenden Moment, als Sommer Mbappe und Frankreich in tiefe Trauer stürzte. Und gegen Spanien? „Man hat gesehen, alles ist möglich im Fußball“, sagte der blass gebliebene Liverpool-Spieler. „Wir werden diesen Tag heute genießen, und dann geht es weiter.“ Ein Wermutstropfen: Wegen seiner Verwarnung mit der Gelben Karte in der zweiten Hälfte wird Xhaka im Viertelfinale gegen den dreifachen Europameister fehlen.