Blick in das Wembley Stadium
Reuters/John Sibley
Fußball-EM

Was von der EM in Erinnerung bleibt

Beim dramatischen Finale zwischen Italien und England haben sich noch einmal die Dramen und Aufreger dieser Fußballeuropameisterschaft in einer Partie verdichtet. Der Elfmeterkrimi im Wembley-Stadion in London setzte den Schlusspunkt hinter ein außergewöhnliches Turnier, das in vielerlei Hinsicht in Erinnerung bleiben wird.

Offensivdrang und Drama: Überraschend mutig ging es bei dieser EM zu. Teams mit Offensivambitionen wurden oft belohnt, die EM endete mit einem neuen Torrekord seit Einführung der Gruppenphase bei Endrunden. Der Torschnitt von 2,78 Treffern pro Partie ist der höchste der EM-Geschichte seit 1980. 2000 in den Niederlanden waren es im Schnitt 2,742 Tore. Und spannend ging es zu: Acht der 15 K.-o.-Spiele gingen in die Verlängerung. Zwar setzte sich am Ende ein Favorit durch, aber auch die Außenseiter zeigten, was als Kollektiv möglich ist.

Die Flügelspieler: Nicht nur für Trainerlegende Fabio Capello haben die Flügelspieler – Außenverteidiger wie Außenstürmer – den Spielen eindrucksvoll ihren Stempel aufgedrückt. Englands Raheem Sterling, Italiens Federico Chiesa, Leonardo Spinazzola und Giovanni Di Lorenzo, der Niederländer Denzel Dumfries oder Dänemarks Joakim Maehle gehörten zu den auffälligsten Spielern des Turniers.

Das war die EM 2020

Es waren wunderbare vier Wochen, die die Fußballfans in ganz Europa erleben durften – mit schönen Toren, einem neuen Torrekord, fantastischen Spielen, richtigen Fußballkrimis und einer österreichischen Nationalmannschaft, die mittendrin war und gar keine so schlechte Rolle gespielt hat.

Italien: Die „Squadra Azzura“ krönte sich für viele nicht nur verdient zum Europameister, sie brach auf größter Bühne mit alten Traditionen: Italien ist unter Roberto Mancini längst kein Defensivapostel mehr, die Italiener begeisterten mit herzerfrischenden und wohlgetrimmten Offensivvorstellungen, scheuten aber – wenn es darauf ankam – nicht den Blick ins Catenaccio-Handbuch. Das bekam nach einigem Kampf auch das ÖFB-Team zu spüren.

ÖFB-Team: Den ersten Sieg einer österreichischen Mannschaft bei einer EM-Endrunde feierten David Alaba und Co. gleich im ersten Spiel gegen Nordmazedonien (3:1), so richtig in Stimmung kamen die rot-weiß-roten Fans aber erst zum Ende der Gruppenphase. Mit einem 1:0 gegen die Ukraine gelang der Sprung ins Achtelfinale, in der die Auswahl von Franco Foda Mitfavorit Italien einen heißen Fight auf Augenhöhe lieferte und sich erst in der Verlängerung mit 1:2 geschlagen geben musste. Der Mut zum Risiko wurde mit Lob quittiert.

Spielr der dänischen Nationalmannschaft
Reuters/Carl Recine
Dänemark durchlebte bei der EM eine Hochschaubahn der Gefühle und spielte sich in die Herzen der Fans

Dänemark: Erst bangte ganz Fußballeuropa um das Überleben von Christian Eriksen. Seine Mitspieler reagierten nach dem Herzstillstand ihres Starspielers vorbildlich, bildeten einen Sichtschutz, dann der herzerfrischende, offene Umgang mit den eigenen Emotionen. Und letztlich ein sportlicher Siegeszug unter Trainer-Taktiker Kasper Hjulmand, der „Danish Dynamite“ bis ins Halbfinale vorstoßen lässt. Erinnerungen an den Sensationstitel 1992 wurden wach.

Cristiano Ronaldo: Zur erfolgreichen Titelverteidigung reichte es mit der portugiesischen Auswahl nicht, und auch Ronaldos Auftritte sollen schon einmal besser gewesen sein. Dafür sammelte der inzwischen 36-jährige Superstar weiter fleißig Rekorde. Ronaldo erzielte bei diesem Turnier fünf Tore und ist mit nun 14 Treffern bei EM-Endrunden mit Abstand die Nummer eins. Mit gesamt 109 Länderspieltoren stellte er auch die Bestmarke des Iraners Ali Daei ein.

Die schönsten Tore der EM 2020

Der Kniefall: Als das politische Symbol schlechthin wird der Kniefall von diesem Turnier in Erinnerung bleiben. Vor jeder ihrer Partien gehen die englischen Nationalspieler kurz vor dem Anpfiff für einen Moment mit dem Knie auf den Boden – als Geste gegen Rassismus, was angesichts der Anfeindungen nach dem verlorenen Elferkrimi im Finale gegen Italien besonders symbolträchtig war. Einige Teams solidarisierten sich, andere lehnten den Kniefall ab. Österreichs Nationalteam kniete nie.

Die Gruppe F: Mit Weltmeister Frankreich, EM-Titelverteidiger Portugal und Deutschland spielten drei Mitfavoriten in der „Horrorgruppe“. Das Trio hatte aber schon in der Gruppenphase mit dem krassen Außenseiter Ungarn Probleme, im Achtelfinale kam schließlich für alle drei Teams das frühe Aus. Frankreich verspielte gegen die Schweiz einen Zwei-Tore-Vorsprung und schied im Elfmeterschießen aus, Portugal musste sich Belgien mit 0:1 geschlagen geben, und Deutschland unterlag England mit 0:2.

Kylian Mbappe: Der 22-jährige Stürmer war der designierte Topstar dieser EM. Doch im Generationsduell mit Cristiano Ronaldo konnte der Bereits-Weltmeister von Paris Saint-Germain bei Weitem nicht mit. Mit guten Aktionen, aber ohne Torerfolg ging es ins Achtelfinal-Duell mit der Schweiz, in dem Mbappe den entscheidenden Elfmeter verschoss und damit zu Frankreichs tragischem Helden avancierte.

Kylian Mbappe (FRA)
APA/AFP/Franck Fife
Mbappe war der designierte Topstar dieser EM, blieb aber ohne Torerfolg und schied im Achtelfinale aus

Türkei: In der Qualifikation hatten die Türken mit einem Sieg über Weltmeister Frankreich, 23 Punkten aus zehn Spielen und nur drei Gegentoren überzeugt, mancherorts sah man die Auswahl vom Bosporus sogar als Geheimfavorit. Die Endrunde wurde für Teamchef Senol Günes und sein Team aber mit null Punkten und 1:8 Toren zur Blamage.

UEFA-Politik: Druck auf Dänemark nach dem Eriksen-Zusammenbruch, das Abwälzen der Verantwortung in der Coronavirus-Frage auf die lokalen Behörden und dann ein Regenbogen-Verbot: Der Kontinentalverband schoss sich nicht nur mit der Untersagung, die Münchner Arena vor dem Spiel gegen Ungarn in Regenbogenfarben zu illuminieren, ein Eigentor.

Eigentor-Flut: Die neue Höchstzahl scheint unüberbietbar. Gleich elfmal bugsierten Akteure einer verteidigenden Mannschaft den Ball ins eigene Tor – öfter als bei allen bisherigen Endrunden zusammen (9). Es gibt Erklärungen. Die vielen Tempogegenstöße und Flankenbälle mündeten in Aktionen, in denen (müden?) Verteidigern und Torhütern schwere Fehler unterliefen.

EM der Eigentore

EM-Modus: Die Aufstockung auf 24 Teams brachte schon 2016 die Schwierigkeit mit sich, für das Achtelfinale aus sechs Vierergruppen 16 Teams zu filtern. Weil so auch die vier besten Gruppendritten weiterkamen, ergeben sich mehrere Probleme: Manche Teams müssen tagelang auf Gewissheit warten, andere können sich mit Blick auf die Tabelle der Gruppendritten im abschließenden Spiel mit bestimmten Ergebnissen zufriedengeben. Ändern wird sich daran auch 2024 beim Deutschland-Turnier nichts, die UEFA prüft aber eine Ausweitung auf 32 Teilnehmer für die EM 2028. Eine Wiederholung der Endrunde über den ganzen Kontinent dürfte es immerhin nicht geben.

Emotion vs. Superspreader: Endlich wieder Stimmung – oder ein Hochfest für das Coronavirus? In Budapest ein volles Haus, in London befeuerten „Sweet Caroline“ schmetternde Engländer die Euphorie. Die Fangesänge und volle Stadien lösten die trostlosen Bilder mit leeren Stadien ab, doch es bleibt die Frage der Verhältnismäßigkeit. Müssen die Emotionen, die König Fußball einforderte, im Nachgang mit der Gesundheit von Menschen bezahlt werden?

Der VAR und das Abseits: Erstmals kam bei einer EM-Endrunde der Videoschiedsrichter-Assistent (VAR) zum Einsatz. Lange Wartereien gab es praktisch keine, die Entscheidungen bei den zu bewertenden Szenen wurden schnell und überwiegend richtig getroffen. Völlig ausgereift ist das technische Hilfsmittel aber nicht. Vor allem die extrem spät getroffenen Abseitsentscheidungen rufen Kritiker und VAR-Skeptiker auf den Plan. Bis zur nächsten großen Endrunde der Herren bleibt nicht so viel Zeit, denn die umstrittene Weltmeisterschaft in Katar im November 2022 wirft längst ihre Schatten voraus.