Education City Stadion in Katar
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Fußball-WM

Ein Jahr vor Katar: Zwischen Pomp und Kritik

Die umstrittene Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar hat seit dem Zuschlag ihre Schatten vorausgeworfen. Erstmals wird eine Endrunde in den europäischen Wintermonaten über die Bühne gehen, und das in einem Land mit einer Fläche so groß wie Oberösterreich. Bis zum Anpfiff in Katar sind es nur noch exakt zwölf Monate. Die pompösen Stadien sind quasi fertig, dafür nimmt die Kritik an dem reichen Emirat kein Ende – Boykottforderungen werden aber auch von Menschenrechts- und Arbeiterorganisationen zurückgewiesen.

Der frühere Präsident des Fußballweltverbandes (FIFA), Joseph Blatter, mühte sich vor mittlerweile elf Jahren zu einem kurzen Lächeln, als er jene weiße Karte aus dem Briefumschlag zog, die den Weltfußball in jahrelange, hitzige sowie kontroverse Diskussionen und Skandale stürzen sollte. „Katar“, rief der damalige FIFA-Präsident 2010 in den Zürcher Saal. Für Millionen Fans und etliche Kritiker hätte die 22. Endrunde niemals an das kleine Emirat hätte vergeben werden sollen.

Katar will die Chance freilich nützen und lässt sich die WM viel kosten, Medien berichten von Investitionen zwischen 150 und 200 Milliarden Euro für die Stadien und die Infrastruktur wie den Bau eines U-Bahn-Netzes, an dem auch der heimische Baukonzern Porr mitgewirkt hat. Die meisten der acht Stadien, die teils über Klimaanlagen verfügen und sich in einem Radius von 30 Kilometer rund um Doha befinden, sind bereits fertig. „So weit wie Katar jetzt ist, waren Austragungsorte noch selten bei einer WM“, betonte zuletzt ÖFB-Geschäftsführer Thomas Hollerer in der ORF-Sendung „Sport am Sonntag“.

Ein Jahr vor der WM in Katar

Ob Österreich bei der nächsten WM in Katar mit dabei sein wird, ist noch ungewiss. Über den Austragungsort wird bisher vor allem kritisch berichtet: Missachtung von Menschenrechten, Temperaturen, die das Fußballspielen schwierig machen, und die völlig fehlende Infrastruktur sind die großen Kritikpunkte.

In dem Golfemirat leben insgesamt rund zwei Millionen Arbeitsmigranten. Sie kommen vor allem aus armen Ländern wie Bangladesch, Nepal und Indien. Für die WM rüstet Katar massiv auf: die hochmodernen Arenen, die teils komplett neue Infrastruktur, Hunderte Hotels, die auf den Ansturm von Millionen Fans hoffen. Baustellen für die WM und für den bis 2030 geplanten Aufschwung Katars, der auch mit anderen Sportevents wie der Formel 1 vorangetrieben werden soll, lassen sich oft nicht voneinander trennen.

Al Bayt Stadion in Katar
Reuters/Kai Pfaffenbach
Die Fußball-WM 2022 ist für Katar das Prestigeprojekt schlechthin, wenn um den bis 2030 geplanten Aufschwung geht

In Jahren wie diesen ist Nachhaltigkeit ein großes Thema, deswegen stellen sich viele Beobachter nicht zu Unrecht die Frage: Was passiert mit den Stadien nach der Endrunde, die kurz vor Weihnachten am katarischen Nationalfeiertag am 18. Dezember enden wird? „Manche Stadien werden umfunktioniert, eines ganz abgebaut, andere zurückgebaut, und wir werden auch Sitze spenden, um anderen Ländern beim Aufbau der Sportinfrastruktur zu helfen“, erklärte der Geschäftsführer der Weltmeisterschaft, Nasser al-Chater.

Menschenrechtsverletzungen bleiben Thema

Eine ganz andere Baustelle ist die menschliche Situation auf der arabischen Halbinsel. Amnesty International kritisierte erst am vergangenen Dienstag in einem veröffentlichten Bericht weiterhin weit verbreitete Verstöße gegen die Rechte von Arbeitsmigranten.

Im vergangenen Jahrzehnt waren Tausende von ihnen auf den Baustellen Katars ausgebeutet worden – und gestorben. Der „Guardian“ berichtete Anfang dieses Jahres sogar von 6.500 Opfern. Die lautstarke internationale Kritik führte zu zumindest auf dem Papier tiefgreifenden Reformen, die bei FIFA und dem Organisationskomitee auch gerne auf den WM-Zuschlag zurückgeführt werden.

Weiterhin Kritik an Praktiken in Katar

Die Fortschritte infolge von Gesetzesänderungen stagnierten aber, schreibt Amnesty, „alte ausbeuterische Praktiken“ gewännen wieder die Oberhand. Katar setze Reformen nicht rigoros um, überwache ihre Umsetzung nicht und ziehe Verantwortliche für Verstöße nicht zur Rechenschaft. So seien Arbeitsmigranten Arbeitgebern ausgeliefert.

Arbeiter auf der Baustelle des Lusail Stadions in Katar
Reuters/Kai Pfaffenbach
Die Situation der Arbeitnehmer in Katar war und ist das Thema rund um die Fußballweltmeisterschaft 2022

Auch die österreichische Amnesty-Geschäftsführerin Annemarie Schlack bekräftigte diese Befürchtungen gegenüber dem ORF: „Wir vermuten, dass es weiterhin sehr unmenschliche Arbeitsbedingungen gibt und katarische Behörden Arbeitsschutz nicht ernst nehmen.“

Auf die Thematik angesprochen kritisieren hochrangige Funktionäre im Organisationskomitee ein Alles-oder-nichts-Denken, nirgendwo auf der Welt würden sich alle an die Gesetze halten. Die Strafverfolgung bei Verstößen gegen die neuen Arbeitsrechte sei aber rigoros, das jahrelang heftig kritisierte Kafala-System abgeschafft.

Abschaffung des Kafala-Systems „historisch“

Dieses auch in anderen Ländern der Region verbreitete System bindet ausländische Arbeiter fest an einen einheimischen Bürgen wie einen Arbeitgeber. Die Abschaffung in Katar hatte die UNO-Arbeitsorganisation ILO als „historischen Schritt“ gewürdigt. Arbeitsmigranten können jetzt laut Gesetz ohne Erlaubnis ihren Arbeitgeber wechseln. Auch einen Mindestlohn führte Katar ein. Mit den Reformen ging das Emirat weiter als alle anderen Länder am Golf.

Amnesty beklagt jedoch zahlreiche Verstöße, die ungeahndet blieben. Die Migranten seien trotz anderslautender Zusagen de facto weiter an ihren Sponsor gebunden. Wollten sie den Job wechseln, sähen sie sich Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt. Zudem blieben viele Todesfälle unter den Arbeitsmigranten ungeklärt. Trotz klarer Hinweise auf Hitzestress bleibe es extrem schwierig zu erfahren, in wie vielen Fällen die Arbeitsbedingungen für den Tod verantwortlich seien. Betroffene Familien erhielten keine Kompensation.

„Boykott wäre absolut kontraproduktiv“

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty raten unterdessen von einem Boykott ab. „Wir wollen die internationale Aufmerksamkeit bei der WM nutzen. Es kommt nun darauf an, dass die Reformen auch über die Weltmeisterschaft hinaus langfristig zu Verbesserungen führen“, sagte Amnesty-Expertin Lisa Salza im September. Ähnlich sehen das Arbeiterorganisationen. „Nach all den Verbesserungen – auch wenn man da jetzt nicht Entwarnung geben muss – wäre jetzt ein Boykott absolut kontraproduktiv“, betonte Dietmar Schäfers, Vizepräsident der IG BAU und der internationalen Bau- und Holzarbeiter-Gewerkschaft BHI, in einem Interview mit dem deutschen Fachmagazin „kicker“.

„Ein Boykott hilft den Menschen dort nicht. Er würde die Gefahr in sich bergen, dass es Stillstand gibt, und Stillstand können die Leute da unten nicht gebrauchen.“ Der internationale Sekretär der Gewerkschaft Bau-Holz, Christian Fölzer, sagte im ORF: „Mittlerweile kann man davon sprechen, dass die ärgsten Mängel behoben wurden.“

WM-Geschäftsführer Nasser al-Chater sagte am Samstag diesbezüglich gegenüber Medienvertretern: „Katar wurde für einige Jahre schon unfair behandelt.“ Er räumte allerdings auch ein, „dass noch Arbeit erledigt werden muss“. Es gäbe auch viel Fortschritt, aber „leider kommt das in Berichten von beispielsweise Amnesty nicht vor.“ Der LGBTQ-Community, die in Katar keine Rechte hat, richtete Chater aus: „Jeder ist willkommen, eine schöne Zeit zu haben, unabhängig von Orientierung, Glaube, Religion, Rasse oder was auch immer.“

Dänemark will weitere Zeichen setzen

Das sportliche Teilnehmerfeld an der WM nimmt unterdessen Formen an. 13 Nationalmannschaften haben ihr Ticket bereits sicher, darunter auch die dänische Auswahl. Der Sieger der Österreich-Qualigruppe hat wie andere Teams auch – darunter das ÖFB-Team im März – ein sichtbares Zeichen gegen Menschenrechtsverletzungen gesetzt.

Der dänische Fußballverband DBU kündigte am Mittwoch weitere zahlreiche Initiativen an, wie man die kritische Haltung gegenüber Katars Umgang mit Gastarbeitern deutlich machen wolle. So wollen die kommerziellen Partner ihre Tätigkeiten einschränken und keine Veranstaltungen besuchen, die nicht sportlicher Art sind – es sei denn, sie sind Teil des kritischen Dialogs, hieß es in einer Mitteilung.

Deutsches Team protestiert gegen WM in Katar
Reuters/Kim Price
Dänemark geht mit seinen Botschaften für Veränderung in Katar voran

Auch der DBU wolle seine Reisetätigkeit einschränken und weniger Mitarbeiter zum Turnier schicken. Außerdem wollen die Sponsoren Danske Spil und Arbejdernes Landsbank auf ihre Logos auf den Trikots verzichten und den Spielern Platz für politische Botschaften einräumen. „Der DBU steht der WM in Katar schon seit langem sehr kritisch gegenüber, aber nun intensivieren wir unsere Bemühungen und den kritischen Dialog weiter“, sagte Verbandschef Jakob Jensen. „Wir nutzen unsere Teilnahme, um für mehr Veränderung zu arbeiten.“

Öffentlicher Druck für Positionierung nimmt zu

Der Druck für eine klare Positionierung dürfte weiter zunehmen. In München protestierten die Fans zuletzt in der Allianz Arena erneut mit einem riesigen Plakat gegen die Sponsorenbeziehung des FC Bayern München zu Katar, das im Weltsport Milliarden investiert. Startrainer Josep Guardiola steht ob seiner Beziehungen zu Katar seit Jahren in der Kritik, ebenso der französische Fußballclub Paris Saint-Germain, der komplett in katarischer Hand ist. Die Geschäfte mit Frankreich spielten damals auch in die Berichterstattung um die WM-Vergabe.

Verbrieft ist ein Abendessen des damaligen UEFA-Präsidenten Michel Platini im Elysee-Palast vor der Entscheidung mit Frankreichs Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy und dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani. Letzterer jubelte wenig später in Zürich, als Blatter die Karte mit der Aufschrift „Qatar“ aus dem Umschlag zog. Die Wahl traf das FIFA-Exekutivkomitee, das in den Nullerjahren und bis zum großen Knall 2015 einem Selbstbedienungsladen glich. Von den damaligen Funktionären wurden etliche gesperrt und angeklagt. Korruptionsvorwürfe rund um die WM-Vergabe wurden nie gerichtlich bewiesen – und von Katar deutlich zurückgewiesen.