Müller, schon bei Österreichs bisher letzter Teilnahme an einem Großereignis, der Weltmeisterschaft 2009, im Amt, wollte aber trotz der selbst gesteckten Vorgabe keinen Druck aufbauen: „In dieser Gruppe kann alles passieren“, sagte der Coach, der wegen eines positiven Coronavirus-Tests beim Auftaktspiel allerdings nicht dabei sein kann. Er wird von seinem Bruder und Nachwuchs-Teamtrainer Helfried Müller vertreten. Neben den Chinesinnen treffen die Österreicherinnen in Gruppe H auch noch am Samstag auf Argentinien und dann zum Abschluss am 6. Dezember auf die Gastgeberinnen aus Spanien.
Gerade mit den Chinesinnen wartet gleich zum Auftakt die „große Unbekannte“, wie Müller bestätigte. Der hatte schon im Vorfeld davor gewarnt, die Gegnerinnen zu unterschätzen. „Wir reden hier nicht von Fallobst, das du einfach so wegräumen kannst“, erklärte der Deutsche. Zumal das erste Spiel die große Weichenstellung ist, wohin es für Österreich beim insgeamt 13. Auftritt bei einer WM-Endrunde geht. Denn aus den acht Vierergruppen in der Vorrunde steigen jeweils die besten drei Teams in die Hauptrunde auf. Mit einem Sieg gegen China wäre ein erster großer Schritt in diese Richtung geschafft.
Vorbereitung auf WM-Endrunde
Österreichs Damen haben die intensive Vorbereitung auf die WM mit einem Länderspieldoppel gegen Portugal abgeschlossen. Dabei setzte es jeweils zwei knappe Niederlagen.
Zusammenhalt soll Erfahrung ausbügeln
Aber auch Österreich selbst ist nach der langen Durststrecke eine Unbekannte. Zwischen 1986 und 2009 noch für jede WM bzw. EM qualifiziert, war man zwölf Jahre zum Zuschauen verdammt. Die aktuellen Teamspielerinnen kennen eine Welt- oder Europameisterschaft nur vom Hörensagen. „90 Prozent der Mannschaft haben keine Ahnung davon, ein Großereignis zu spielen. Das ist physisch wie mental eine ganz andere Belastung“, sagte Rückraumspielerin Patricia Kovacs.
Daher hofft auch Petra Blazek, mit 34 Jahren eine der routinierten Spielerinnen im Team, auch auf ein Erfolgserlebnis gleich zu Beginn. Die 202-fache Teamspielerin appellierte vor Turnierbeginn daher auch an die in der jüngeren Vergangenheit oft an den Tag gelegte mannschaftliche Geschlossenheit, auch im Fall des Falles, dass es nicht nach Wunsch klappt. „Auch wenn wir ein Spiel verlieren, müssen wir zusammenstehen. Was gar nicht passieren darf, ist, dass das Team in Einzelteile zerfällt“, sagte Blazek.
Auch wenn Torfrau Blazek, die neben sechs Spielerinnen von Rekordmeister Hypo NÖ eine von zehn Legionärinnen im Kader ist, kein Neuling bei Großereignissen mehr ist, fiebert sie dem WM-Comeback der Österreicherinnen entgegen. „Es ist meine vierte WM, aber ich bin aufgeregt wie bei der ersten“, sagte die Legionärin in Diensten des Thüringer HC, der im Hauptberuf ebenfalls von ÖHB-Teamchef Müller gecoacht wird.

„Riesenschritt“ nach Durststrecke
Der Deutsche, seit 17 Jahren Trainer des österreichischen Nationalteams, versprüht ebenfalls noch immer dieselbe Begeisterung wie einst. „Zwölf Jahre (seit der letzten WM, Anm.) sind manchmal drei, vier Trainerleben“, sagte Müller im Rückblick auf seine bisherige Amtszeit. „Von damals sind nur noch Petra Blazek und Sonja Frey dabei“, sagte der Teamchef und erinnerte an die bisher letzte Endrunde mit österreichischer Beteiligung in China. Damals beendeten Müller und seine Spielerinnen das Turnier auf dem zehnten Platz.
Es war das vorläufige Ende einer rund 15-jährigen Phase, in der die – u. a. aus eingebürgerten Hypo-Spielerinnen bestehende – Auswahlen Bronze bei der EM 1996 und bei der WM 1999 holten und meist als Medaillenkandidat zu den Turnieren fuhren. Aus Sicht Müllers eines der größten Probleme während der Durststrecke: „Viele Spielerinnen haben zu schnell aufgehört, wir hatten immer wieder große Lücken“, resümierte Müller. Immerhin: „Wir mussten immer neue Spielerinnen einbauen. Dadurch hat sich kein Abnützungseffekt eingestellt.“

Vom Status der einstigen Truppen des Österreichischen Handballbundes (ÖHB) ist man derzeit zwar ein gutes Stückerl entfernt, für den Hauptrundenaufstieg ist das Team aber in jedem Fall gut. Müller jedenfalls gab sich kämpferisch. „Es ist ein Riesenschritt, aber wir gehen nicht nur hin, um zu lernen, sondern um zu bleiben. Wir wollen definitiv in die Hauptrunde“, sagte der 59-Jährige. Zugleich wolle er „nicht, dass die Mannschaft diesen Druck hat. Ich will diese Freude.“
Frankreich führt Favoritenliste an
Sollte der angepeilte Aufstieg in die nächste Runde gelingen, würde Österreich in Hauptrundengruppe vier auf die Top Drei von Pool G, bestehend aus Kroatien, Japan, Brasilien und Paraguay, treffen. Für Blazek und Co. geht es aber nicht zuletzt um einen wichtigen Entwicklungsschritt im Hinblick auf die Heim-EM 2024. „Die Erfahrungswerte sind unbezahlbar“, sagte Müller.
Während Österreich auf ein Weiterkommen hofft, haben sich andere Nationen klarerweise den Titel als Ziel gesetzt. Am höchsten gehandelt werden Olympiasieger Frankreich, Titelverteidiger Niederlande und Europameister Norwegen. Dazu gehören auch die Olympiazweiten von Tokio aus Russland zum Kreis der Medaillenkandidatinnen. Und natürlich die Spanierinnen, die bei der ersten WM auf spanischem Boden als Vizeweltmeisterinnen von 2019 vor allem auf den Heimvorteil setzen.