Anna Kiesenhofer (AUT)
GEPA/Markus Oberlaende
Jahresrückblick

Rot-weiß-rote Festspiele in Tokio

Mit einem Jahr Verspätung gingen im Sommer die Olympischen Spiele in Tokio über die Bühne. Und sie waren für Österreich weit erfolgreicher, als im Vorfeld spekuliert wurde. Denn schon am zweiten Tag nach der Eröffnung radelte Anna Kiesenhofer sensationell zu Gold.

In der Geschichte olympischer Sommerspiele war die Ausbeute von sieben Medaillen der Gesamtzahl nach die zweitbeste nach den Spielen 1936 in Berlin, als Österreich 13-mal Edelmetall gewann. Gemessen an der Anzahl der Bewerbe ist die Ausbeute mit einem Prozentsatz von 2,1 die dritthöchste nach den Spielen 1968 in Mexiko und jenen vor 17 Jahren in Athen. Vor allem nach dem „Salto Nullo“ von London und einer Bronzemedaille in Rio war die Bilanz von einer Goldenen, einer Silbermedaille und fünfmal Bronze diesmal Balsam auf der geschundenen österreichischen Sommersportseele.

„Zwei Spiele haben wir mangels sportlicher Erfolge eine Medaillenfeier ausgelassen. Jetzt darf endlich wieder gefeiert werden – unter Einhaltung aller Covid-19-Maßnahmen, das versteht sich von selbst. Wir sind richtig stolz auf unser Olympiateam“, sagte der Präsident des Österreichischen Olympischen Comites (ÖOC), Karl Stoss, und spielte auf den Olympiaempfang in der Hofburg bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Dienstag (18.20 Uhr, live in ORF1) an. Der Oberbefehlshaber des Bundesheeres darf dabei insgesamt sechs erfolgreiche Heeressportler begrüßen. Denn außer Radolympiasiegerin Anna Kiesenhofer sind alle Medaillengewinnerinnen und -gewinner Teil der Heeresportzentren.

Im Medaillenspiegel belegte Österreich am Ende Platz 53. 2004 in Athen wog die Ausbeute mengenmäßig gleich, strahlte aber inhaltlich im Vergleich zu 1/1/5 mit 2/4/1 mehr. Gemessen an der Anzahl an Gold, Silber und Bronze waren es die acht erfolgreichsten Sommerspiele der Geschichte, voran liegt unangefochten Berlin 1936 mit 4/6/3. Erweitert wurde die Liste jener Sportarten, in denen Österreich erfolgreich war, um Karate und Klettern mit jeweils Bronze. Man hält bei insgesamt 21-mal Gold, 35-mal Silber und 41-mal Bronze, sprich gesamt bei 97. Der „Hunderter“ ist in drei Jahren in Paris das erklärte Ziel.

Kiesenhofer überstrahlt alles

Die 91. Medaille der österreichischen Geschichte war jene, die hierzulande und auch international am meisten für Furore sorgte. Anna Kiesenhofers Husarenritt im Radstraßenrennen zu einem Start-Ziel-Sieg löste vorzeitig den Knopf beim österreichischen Team und machte die studierte Mathematikerin, die von den Favoritinnen keine auf der Rechnung hatte, mit einem Schlag weltberühmt. Kiesenhofer führte eine starke weibliche Abordnung, die mit 39:36 im Team erstmals in der Überzahl war, an: Vier der sieben Medaillen gingen auf das Konto heimischer Sportlerinnen.

Die 30-jährige Niederösterreicherin sorgte zudem für das erste Radsportolympiagold seit Adolf Schmal bei den ersten Spielen der Neuzeit 1896 in Athen. Sie bescherte Österreich damit einen Auftakt nach Maß und nahm nach den durchwachsenen Spielen von London und Rio vorzeitig viel Druck von der Mannschaft. In Zeiten, in denen mit dem Ferry-Dusika-Stadion in Wien ausgerechnet die einzige Radbahn Österreichs der Abrissbirne zum Opfer fällt, sprach nicht nur Kiesenhofer von einer „irrsinnigen Genugtuung“, dass ausgerechnet eine Radfahrerin für das erste österreichische olympische Gold seit Athen 2004 gesorgt hatte.

Rennradfahrerin Anna Kiesenhofer mit Goldmedaille
GEPA/Markus Oberlaender
Kiesenhofer wurde über Nacht von einer radelnden Mathematikerin zu einer internationalen Berühmtheit

Judoka-Comeback und erfolgreiche Premieren

Auch Österreichs Judoka meldeten sich ausgerechnet in der Wiege ihres Sports wieder als Medaillenlieferanten zurück. 13 Jahre nach Ludwig Paischer in Peking eroberten Michaela Polleres und Shamil Borchashvili Silber bzw. Bronze. Sowohl für die Niederösterreicherin Polleres als auch für den gebürtigen Tschetschenen Borchashvili erwies sich die pandemiebedingte Verschiebung der Spiele um ein Jahr als Glücksfall. Polleres tankte mit Platz drei bei der WM im Juni dieses Jahres das nötige Selbstvertrauen. Und der 26-jährige Borchashvili, der als Kind mit seiner Familie nach Österreich geflüchtet war, hatte ebenfalls ein Jahr mehr Zeit, um seine Kampfkunst zu schärfen.

Apropos Matte: Auf jener des altehrwürdigen Nippon Budokan verewigte sich auch Bettina Plank in den Olympiageschichtsbüchern. Die 29-jährige Vorarlbergerin erkämpfte sich bei der Premiere im Karate gleich die Bronzemedaille – und möglicherweise auch die letzte für Österreich in diesem Sport. Denn bereits 2024 in Paris ist Karate nicht mehr im Programm. Planks Medaille darf daher wohl zu Recht als einzigartig bezeichnet werden. Gekommen, um zu bleiben, sind die Kletterer, und auch hier hat Österreich gleich angeschrieben. Jakob Schubert holte im dramatischen Finale mit einem Sieg im Vorstieg doch noch die ersehnte Medaille.

Hoffnungsträger liefern ab

Neben den Sensationen, Comebacks und Premieren bescherte in Tokio mit Magdalena Lobnig und Lukas Weißhaidinger auch ein Duo Österreich Medaillen, auf dem bereits im Vorfeld die Hoffnungen auf Edelmetall ruhten. Sowohl Lobnig im Rudern als auch Weißhaidinger im Diskuswurf behielten die Nerven und hatten teilweise das Glück auf ihrer Seite – so hatte Weißhaidinger nur fünf Zentimeter Vorsprung auf Rang vier. Die zwei Bronzemedaillen waren zudem historisch, denn Lobnig holte im Einer als erste Österreicherin eine Rudermedaille, Weißhaidinger war aus heimischer Sicht der erste männliche Leichtathlet auf einem Olympiapodest.

Auch Schwimmer Felix Auböck erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen. Der 24-Jährige kraulte in drei Auftritten dreimal ins Finale und verpasste über 400 Meter Bronze um lediglich 0,13 Sekunden. Mit Topplätzen von Auböck darf daher in Paris 2024 gerechnet werden. Auch seine Teamkolleginnen Lena Grabowski und Marlene Kahler nährten mit starken Vorstellungen im Aquatic Center von Tokio die Hoffnung auf eine erfolgreiche Schwimmbilanz bei den kommenden Spielen.

Pferdepech und Segelflaute

Die Liste der Enttäuschungen aus österreichischer Sicht hielt sich dank der Erfolge in der Medaillenbilanz in Tokio in Grenzen. Unter den Erwartungen blieben vor allem die Segler, die 2016 dank Thomas Zajac und Tanja Frank für die einzige Medaille gesorgt hatten. Doch Zajac verpasste mit seiner neuen Partnerin Barbara Matz im Nacra-17 ebenso das Medal Race wie Frank mit Lorena Abicht im 49er FX. Als einziges Boot des Österreichischen Segelverbands (OeSV) schafften es die 49er Benjamin Bildstein und David Hussl als Zehnte in das Medal Race der Top Ten.

Segler Thomas Zajac und Barbara Matz
GEPA/ Michael Meindl
Zajac/Matz erlitten im olympischen Revier in Sachen Medaillen Schiffbruch

Ein eitriger Backenzahn von Abegglen, dem Pferd von Victoria Max-Theurer, warf die komplette heimische Dressurequipe aus der Bahn. Die Oberösterreicherin musste nicht nur ihren Start im Einzel absagen, auch als Team konnte Österreich daher nicht antreten. Ebenfalls Pech hatte in der Vielseitigkeit Katrin Khoddam-Hazrati, deren Pferd Cosma beim Aufwärmen ein Hufeisen verlor und nach dem neuen Beschlagen nicht mehr lahmfrei ging.

Keine Reise wert war Tokio auch für die mit großen Hoffnungen angetretenen heimischen Triathletinnen und Triathleten. Julia Hauser musste noch während des Schwimmens nach einem Schlag auf den Kopf aufgeben, Alois Knabl schied nach einem Sturz mit Raddefekt aus. Und schließlich musste die Mixed-Staffel wegen einer Verletzung von Lisa Perterer absagen. „Das waren katastrophale Spiele für uns“, meinte dann auch der Sportdirektor des Österreichischen Triathlonverbands (ÖTRV), Robert Michlmayr. Rang 26 von Perterer und 34 von Lukas Hollaus in den Einzel-Bewerben war die einzige Ausbeute des Teams in Tokio.

Moderner Fünfkampf gerät ins Abseits

Abseits der sportlichen Höchstleistungen standen bei den Sommerspielen Betreuer im Fokus, denn deutsche Zurufe aus der Distanz sorgten für großen Aufschrei. Verstörende Bilder gab es im Modernen Fünfkampf der Frauen: Annika Schleu schlug verzweifelt mit der Gerte auf das verängstigte Pferd Saint Boy ein. Dabei rief ihr die deutsche Bundestrainerin Kim Raisner zu: „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“ Die Bilder der Reiterin und Betreuerin gingen in kürzester Zeit um die Welt. In der Zwischenzeit ist als Konsequenz geplant, den Pferdesport aus dem Modernen Fünfkampf zu streichen und eventuell durch Radsport zu ersetzen.

Der deutsche Radsportdirektor Patrick Moster feuerte im olympischen Einzelzeitfahren Nikias Arndt mit den Worten „Hol’ die Kameltreiber, hol’ die Kameltreiber, komm“, an und meinte damit den vor Arndt fahrenden Algerier Azzedine Lagab. Beide Betreuer wurden von den Spielen ausgeschlossen.

Annika Schleu (GER)
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Für die deutsche Fünfkämpferin Annika Schleu endeten die Spiele in einem Desaster

Druck für Biles zu groß

Dem hohen Druck musste Turnerin Simone Biles Tribut zollen. Die Dominatorin der vergangenen Jahre brachte Geist und Körper nicht mehr unter einen Hut. Wegen einer mentalen Blockade insbesondere bei Drehungen hatte sie in Tokio auf eine Vielzahl der Wettkämpfe verzichtet. Statt wie erwartet mit mehreren Goldmedaillen verließ sie Japan „nur“ mit je einmal Silber (Team) und Bronze (Schwebebalken).

In einem Interview mit dem „New York Magazine“ gestand sie später ein, dass ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen ein Fehler gewesen sei. „Wenn man sich ansieht, was ich in den letzten sieben Jahren alles durchgemacht habe, hätte ich nie wieder einem Olympiateam angehören dürfen“, sagte die 24-jährige US-Amerikanerin.

Simone Biles (USA)
AP/Ashley Landis
Für Simone Biles war die Reise nach Tokio „ein Fehler“

Sie sprach auch den Skandal um den ehemaligen Mannschaftsarzt Larry Nassar an. Biles gehörte zu dessen mehrere hundert Missbrauchsopfern, das habe einen hohen emotionalen Tribut gefordert. „Es war zu viel. Aber ich wollte nicht zulassen, dass er mir etwas wegnimmt, für das ich hart gearbeitet habe, seit ich sechs Jahre alt war“, so Biles. „Also habe ich das so lange verdrängt, wie mein Geist und mein Körper es mir erlaubten.“