Fußballer Ciro Immobile (ITA)
Reuters/Guglielmo Mangiapane
WM-Qualifikation

Italiener nach „Disastro“ fassungslos

Italiens Nationalmannschaft ist in knapp neun Monaten vom sportlichen Himmel in die Hölle gestürzt. Im Juli 2021 noch strahlender Europameister ist die „Squadra Azzurra“ bei der WM 2022 in Katar nur Zuschauer. Aleksandar Trajkovski schickte mit seinem Treffer in der Nachspielzeit zum 1:0-Sieg von Nordmazedonien am Donnerstag im Play-off in Palermo Schockwellen der Fassungslosigkeit über die Apennin-Halbinsel. „Disastro Italia“ („Katastrophe Italien“) schrieb die „Gazzetta dello Sport“ stellvertretend für alle Tifosi.

Nur 256 Tage nach dem Triumph im EM-Finale in London wurden die Italiener bei der vermeintlichen Pflichtaufgabe von Trajkovskis Weitschuss in der Nachspielzeit aus ihren WM-Träumen gerissen. Mehr noch: Zum zweiten Mal hintereinander ist der vierfache Weltmeister der große Abwesende bei einer WM, nachdem man 2018 im Play-off an Schweden gescheitert war. Es ist auch das vierte Mal, dass ein amtierender Europameister nicht bei einer WM dabei ist, davor verpassten die Tschechoslowakei als Europameister 1976, Dänemark (1992) und Griechenland (2004) die folgende WM-Endrunde.

„So wie die EM die schönste Erfahrung meines Lebens war, war das die größte Enttäuschung. Wir können nichts sagen, das ist der Fußball. Manchmal passieren unglaubliche Dinge, und es ist passiert“, sagte auch ein sichtlich gezeichneter Teamchef Roberto Mancini nach der Pleite gegen die Nordmazedonier, die in der WM-Qualifikation immerhin auch schon mit einem 2:1-Sieg in Deutschland für Furore gesorgt hatten. Die Blamage in Palermo könnte jedenfalls das letzte Spiel Mancinis als italienischer Nationaltrainer gewesen sein.

Der nordmazedonische Fußballer Aleksandar Trajkovski jubelt zusammen mit Teamkollegen.
APA/AFP/Alberto Pizzoli
Trajkovski (M.) sicherte sich mit seinem Siegestreffer einen Ehrenplatz in den nordmazedonischen Fußballchroniken

Mancini selbst wollte kurz nach dem Spiel noch nicht über seinen Abschied sprechen. „Wir werden sehen – die Enttäuschung ist zu groß, um über die Zukunft zu sprechen“, sagte der Coach auf eine entsprechende Frage. „Es wird nicht einfach in den nächsten Tagen“, sagte Mancini. Sein Vertrag läuft bis 2026. Verbandschef Gabriele Gravina sprach sich noch in der Nacht für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit aus: „Ich wünsche mir, dass Mancini bei uns bleibt. Wir haben uns für ein Projekt verpflichtet.“

Schockierte Spieler und Medien

Seinen Spielern war der Schock ebenfalls ins Gesicht geschrieben. „Wir sind enttäuscht, gebrochen, am Boden zerstört“, sagte Giorgio Chiellini. „Es ist schwer zu erklären, was passiert ist. Es tut so weh. Ich bin ehrlich, ich bin immer noch ungläubig“, sagte auch Jorginho. Für den gebürtigen Brasilianer war das Aus besonders bitter, denn er hatte mit zwei verschosssenen Elfmetern in den Gruppenspielen gegen die Schweiz den Gang in die Play-offs mitverursacht. „Es tut weh, wenn ich daran denke. Es wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Zweimal anzutreten und seinem Team und seinem Land nicht helfen zu können ist etwas, das ich für immer mit mir tragen werde.“

Deja-vu für Italien

Nicht nur Österreich, auch Europameister Italien verpasst die Fußball-WM in Katar. Nach der blamablen 0:1-Niederlage gegen Nordmazedonien steht die stolze Fußballnation unter Schock. Wie schon vor vier Jahren in Russland bleibt Italien neuerlich nur die Zuschauerrolle.

Die italienischen Zeitungen gossen jedenfalls einen Schwall an Kritik über die nach dem EM-Titel noch euphorisch gefeierte „Squadra Azzurra“. Nach dem „Mazedonien-Spott“ müsse man „Lebewohl WM, Lebewohl EM, Lebewohl alles“ sagen, meinte die „Gazzetta dello Sport.“ Auch der „Corriere della Sera“ hielt sich nicht zurück: „Die Nationalmannschaft nicht bei der Weltmeisterschaft, der italienische Fußball erreicht sein niedrigstes Niveau aller Zeiten.“ Die „Repubblica“ sah in Anspielung an den großen Triumph und die heftige Blamage eine „Reise Wembley – Palermo ohne Rückfahrt.“ Die Zeitung „Tuttosport“ kommentierte die Pleite mit: „Noooooooo.“

Ex-Teamchef sieht „rückständige“ Fußballkultur

Der ehemalige Teamchef Arrigo Sacchi, der mit Italien 1994 im WM-Finale gestanden war, machte für die laut spanischer „As“ historische Katastrophe gegen Nordmazedonien – bei der EM im vergangenen Jahr noch Gruppengegner der Österreicher – die Fußballkultur im eigenen Land verantwortlich. Man sei „kulturell rückständig, es gibt keine neuen Ideen. Die anderen Nationen entwickeln sich, wir sind auf dem Stand von vor 60 Jahren geblieben“, wurde der 75-Jährige nach dem Aus in der „Gazzetta“ zitiert.

Trainer Roberto Mancini (ITA)
AP/Antonio Calanni
Mancini (l.) konnte nicht glauben, was er im Stadio Enzo Barbera von Palermo im Play-off erlebt hatte

„Die wenigste Schuld an dieser Situation trifft die Spieler und den Trainer. Das Problem liegt im System“, unterstrich der frühere Auswahlcoach, „unsere Jugendabteilungen sind voll mit Spielern aus dem Ausland, die gekauft werden wie Obst und Gemüse, die Clubs sind höchstverschuldet, die Teams gewinnen außerhalb Italiens nichts mehr, und niemand sagt es etwas?“, fragte Sacchi. Seit 2010, als Inter Mailand die Champions League gewann, herrscht im Europacup Titelosigkeit. „Wir sind rückständig, und das nicht nur im Fußball. Der Ansatz, die Idee muss verändert werden“, forderte Sacchi.

Nordmazedonischer Traum lebt

Während man in Italien die Scherben zusammenkehren muss, konnte man bei den Nordmazedoniern sein Glück kaum fassen. „Ich bin noch immer wie unter Schock. Jetzt können wir uns auf eine großartige Rückkehr nach Nordmazedonien einstellen“, sagte Kapitän Stefan Ristovski. Teamchef Blagoja Milevski scherzte: „Wir haben im italienischen Stil gegen Italien gewonnen. Mit einem Treffer aus zwei Schüssen aufs Tor.“

Nun wartet mit Portugal der Vorgänger der Italiener als Europameister. Cristiano Ronaldo und Co. genießen im Play-off-Finale wie Italien Heimrecht, gespielt wird im Estadio do Dragao von Porto. Dort schalteten die Portugiesen die Türkei am Donnerstag mit 3:1 aus. Die Portugiesen benötigten aber auch die Mithilfe des türkischen Torschützen Burak Yilmaz, der vom Elferpunkt die Chance auf das späte 2:2 ausließ.

Das Schicksal Italiens soll für sein Team eine Warnung sein, sagte der portugiesische Trainer Fernando Santos. „Wir müssen denselben Respekt vor Nordmazedonien haben wie vor Italien“, monierte er. „Ich habe euch schon vorher gesagt, dass wir gegen sie spielen könnten. Diese Partien sind kein Scherz, sie sind wie ein Finale, alles kann passieren“, sagte Santos zu Journalisten. Ristovski blickte dem Duell hoffnungsvoll entgegen: „Können wir Portugal schlagen? Natürlich. Wir werden alles versuchen, und wir werden es schaffen.“