Die US-Läuferin Kathrine Switzer auf einem Bild von 1967, also sie als erste Frau den Boston-Marathon gelaufen ist
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Interview

Wie Frau Switzer eine Wende einläutete

Neil Armstrong bezeichnete es als „großen Schritt für die Menschheit“, als er 1969 seinen Fuß auf den Mond setzte. Ebenso viel Bedeutung hatten die Schritte von Kathrine Switzer zwei Jahre zuvor, als sie als erste angemeldete Frau den Boston Marathon absolvierte. „Ich wusste, dass sich mein Leben für immer verändert hatte“, so Switzer im Interview mit ORF.at über jenen Lauf, der auch in der Sportwelt eine Wende einläutete. Heuer feiert die Amerikanerin gleich zwei Jubiläen: Nicht nur ihre Pioniertat jährt sich zum 55. Mal, vor 50 Jahren durften Frauen auch endlich offiziell in Boston starten.

Es war aber nicht die Endzeit von 4:20 Stunden, die aus Switzer an jenem eiskalten 19. April 1967 eine Ikone der Laufbewegung machte, sondern jene Szene, die sich nach rund vier der 42,195 km von Hopkinton nach Boston abspielte. Der über den Start einer Frau bei seinem Rennen empörte Rennleiter Jock Semple versuchte der Studentin mit Gewalt die Startnummer vom Pullover zu reißen und sie aus dem Rennen zu bugsieren. Erst Switzers damaliger Freund und späterer Ehemann, der Hammerwerfer Tom Miller, beendete mit einem gezielten Bodycheck die Attacke des Funktionärs.

Ein Foto der Attacke, die sich direkt vor einem mit Fotografen besetzten Pressefahrzeug abspielte, prangte nur wenige Stunden später auf allen Titelblättern. „Es ist größer geworden, als wir uns das jemals gedacht hätten. Ich habe das erst gegen ein oder zwei Uhr in der Früh realisiert, als wir auf dem Rückweg von Boston nach Syracuse bei einer Pause in einer Raststation die ganzen Zeitungen mit dem Bild der Szene auf dem Titelblatt gesehen haben“, erinnert sich Switzer. Selbst ihre Eltern erfuhren von dem Vorfall erst, als ihr Telefon Sturm läutete.

Die US-Läuferin Kathrine Switzer zeigt auf ein Bild von 1967, also sie als erste Frau den Boston-Marathon gelaufen ist
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Marathonpionierin Switzer und die Szene, die ihr weiteres Leben entscheidend veränderte

Über Nacht war die im deutschen Amberg geborene Tochter eines US-Majors weltberühmt – und auf der Mission, für Gleichberechtigung im Sport zu sorgen. Zwischenzeitlich von allen Bewerben suspendiert, arbeitete Switzer fieberhaft daran, Frauen auch offiziell zu Marathonläufen zuzulassen, wenn die geforderten Kriterien, wie eine Laufzeit unter vier Stunden, erfüllt wurden. 1972 mussten die Organisatoren in Boston nachgeben. Acht Frauen waren erstmals offiziell mit von der Partie. Switzer war eine davon und kam so wie ihre sieben Kolleginnen ins Ziel.

Kein offizielles Frauenverbot

Dabei war Switzer gar nicht die erste Frau, die den Boston Marathon in seiner vollen Länge absolvierte. Diese Ehre wurde laut Homepage ein Jahr zuvor Roberta Gibb zuteil. Anders als ihre Vorgängerin, deren schriftliches Ansuchen auf Teilnahme noch mit dem Hinweis auf ihr Geschlecht abgelehnt worden war, musste sich Switzer vor dem Start nicht im Gebüsch verstecken und „heimlich“ mitlaufen. Die Studentin war offiziell bei der seit 1897 durchgeführten und damit – neben den seit 1896 ausgetragenen Olympiarennen – ältesten Marathonveranstaltung angemeldet.

„Mein Coach hat mir gesagt, du musst als registrierte Athletin die Regeln befolgen und dich offiziell anmelden“, erinnert sich Switzer, die damals in Syracuse studierte und für das Universitätsteam antrat. Weil die Studentin und ihr Trainer Arnie Briggs auf dem Anmeldeformular keinen Hinweis auf ein Verbot für Frauen fanden („Wozu auch, niemand war davon ausgegangen, dass eine Frau das Rennen schaffen würde“), zahlte sie brav ihre Anmeldegebühr und trug sich so, wie sie es immer tat, in die Teilnehmerliste ein: K.V. Switzer.

Kathrine Switzer beim Boston Marathon 2017
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2017 trug Switzer beim 50-jährigen Jubiläum ihres ersten Laufes noch einmal ihre legendäre Nummer

Aufgrund des neutralen Namens schöpften die Veranstalter auch keinen Verdacht. Switzer erhielt daher jene Startnummer, die zum Symbol für ihren Auftritt wurde: 261. Auch wenn Switzer ihren Lauf nicht als Protestaktion geplant hatte, war sie sich des Risikos ihres Antretens bewusst. „Ich habe gesagt, ich werde auffallen, wenn ich in Boston mit einer Startnummer auftauche“, so Switzer, „aber mein Coach hat gemeint: Ich weiß und ich bin stolz auf dich“.

Die Attacke aus dem Hinterhalt

Die Attacke des Rennleiters nach rund vier Kilometern ist bei Switzer noch so präsent, als wäre es gestern gewesen. „Sie hat mich vor allem überrascht, aber es war wie ein Hund, den man hört, bevor er einen beißt“, beschreibt die heute 75-Jährige die schnellen Schritte ihres Angreifers, die sich dank seiner Lederschuhe deutlich abhoben. „Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich attackiert worden bin, daher konnte ich gar nicht viel sagen, sondern habe nur versucht, mich loszureißen. Ich konnte nur fliehen oder kämpfen.“

Dass ihr damaliger Freund den wütenden, aber um einen Kopf kleineren Funktionär schließlich mit einem gezielten Rempler in den Straßengraben bugsierte, war der 20-Jährigen im ersten Moment gar nicht recht. „Ich habe zuerst gedacht, jetzt hat er (mein Freund, Anm.) ihn umgebracht – nicht, dass er (Semple, Anm.) eigentlich mich attackiert hat“, erinnert sich Switzer an ihre damalige Gemütslage unmittelbar nach der Schrecksekunde.

Die nächsten Kilometer durchlebte Switzer überhaupt ein Wechselbad der Gefühle. „Meine erste Emotion war Riesenangst, danach überwog das Gefühl, dass ich wirklich nicht willkommen war. Und es war mir peinlich, dass das Ganze vor dem Pressebus passierte“, so die Pionierin. Eines stand für Switzer aber fest: „Ich wollte dieses Rennen beenden, auf Händen und Füßen, wenn es sein muss. Ich habe gewusst, dass alle erwartet haben, dass ich aufhöre, weil sie es nicht ausgehalten haben, dass ich dabei bin.“

„Einen Weg finden, die Angst zu nehmen“

Auf dem Anstieg zum „Heartbreak Hill“, einer Schlüsselstelle der Strecke rund sieben Kilometer vor dem Ziel, hatte Switzer jene Eingabe, die ihr weiteres Leben bestimmte. „Ich habe realisiert, dass es keinen Sinn hat, auf den Rennleiter wütend zu sein, da es nicht seine Schuld ist. Er war das Produkt seiner Zeit und er ist einfach ignorant. Es liegt an mir, diese Einstellung zu ändern“, so Switzer, „mein Vater hat zu mir immer gesagt: Wenn du etwas machst, dann übernimm dafür die Verantwortung und bring es vor allem zu Ende“.

Auch Frauen, die ihren Start beim Boston Marathon kritisierten, seien nur Produkte ihrer Zeit gewesen, die „einfach nicht den Mut aufgebracht hätten, loszurennen“, so Switzer: „Daher musste ich einen Weg finden, ihnen diese Angst zu nehmen. Wenn ich ihnen Möglichkeiten bieten würde, würden sie auch den Mut aufbringen, daran teilzunehmen. Im Ziel war ich müde und hatte blutige Füße, aber ich habe mich gefühlt, als ob ich etwas Wichtiges entdeckt hätte.“

Kampf gegen Klischees

Wichtig war es Switzer vor allem, mit jenem Vorurteil aufzuräumen, Frauen wären der Belastung von Ausdauersport und speziell Laufen nicht gewachsen. „Schon als Kind hat man mir immer geraten, mit dem Laufen aufzuhören. Es sei nicht gut für Mädchen zu schwitzen, ich würde dicke Beine bekommen, mir würden Haare auf der Brust wachsen, und ich würde später keine Kinder haben können. Außerdem würde ich sowieso nie einen Mann finden, weil ich dann nicht hübsch und populär sein würde“, erzählt Switzer.

Ihr Vater motivierte die junge Kathrine, die zu diesem Zeitpunkt Landhockey spielte, dazu, mit Laufen ihre Kondition zu verbessern. „Er hat mir geraten, jeden Tag zumindest eine Meile zu laufen, dann würde ich eine noch bessere Spielerin werden“, so Switzer, „und die Meile am Tag hat mein Leben verändert, durch das Laufen habe ich mich unbesiegbar gefühlt“. Auf ihr Erscheinungsbild wirkte sich das Training nicht aus, so die Amerikanerin mit einem Lachen: „Ich war hübsch und beliebt, hatte auch Freunde, trug hübsche Kleider und Make-up, aber trotzdem habe ich hart trainiert.“

Olympischer Marathon als Sternstunde

Switzer, deren größter sportlicher Erfolg der Gewinn des New-York-Marathons 1974 war, nutzte im Sog der offiziellen Starterlaubnis von Frauen in Boston ihre Popularität, ihre Arbeit als Journalistin und ihr Organisationstalent und rief Rennen nur für Frauen – ähnlich dem von Ilse Dippmann später etablierten Österreichischen Frauenlauf – ins Leben. Rennen, „bei der die Letzte genauso gefeiert würde wie die Erste“. Mit der Kosmetikfirma Avon, der größten ihrer Zunft in den 1970ern, zog Switzer auch einen potenten Geldgeber an Land.

US-Läuferin Joan Benoit beim Olympia-Marathonsieg in Los Angeles
AP/Armando Trovati
Joan Benoit holte 1984 in Los Angeles als erste Frau olympisches Gold im Marathon

Aufgrund des großen Andrangs bei den Rennen – so waren über 10.000 Läuferinnen mit Fortdauer keine Seltenheit – hatte Switzer auch die notwendigen Argumente in der Hand, um den Marathon der Frauen auch den Bossen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) schmackhaft zu machen. Am 5. August 1984 war es so weit: Switzers Landsfrau Joan Benoit krönte sich in Los Angeles zur ersten Olympiasiegerin. Eine Sternstunde für die Frauenbewegung, so Switzer, vor allem in Sachen TV-Präsenz: „Der große Erfolg waren nicht die 95.000 Menschen im Stadion, sondern die 2,2 Milliarden Menschen vor den TV-Geräten.“

Furchtlos den ersten Schritt setzen

Auch mit 75 Jahren hat Switzer nichts von ihrer Energie und ihrem Enthusiasmus eingebüßt. Gemeinsam mit der Österreicherin Edith Zuschmann versucht die Amerikanerin mit der 2016 gegründeten und an ihre legendäre Startnummer angelehnten Non-Profit-Organisation „261 Fearless“, Frauen auf der ganzen Welt zum Laufen zu motivieren. „Wir wollen Frauen dazu ermutigen, diesen ersten Schritt zu machen. Wenn du diesen geschafft hast, ist es einfach, den zweiten, dritten und vierten zu machen“, so Switzer.

Beim diesjährigen Boston Marathon am 18. April wird anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der offiziellen Starterlaubnis für Frauen auch mit einer eigenen „261 Fearless“-Abordnung um Spenden für das Projekt gelaufen. Switzer selbst wird diesmal nur als Zuschauerin dabei sein: „Ich war beim 50-Jahr-Jubiläum (meines ersten Laufes, Anm.) 2017 dabei, und es war einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Es war ein Riesenevent, und sie haben meine Nummer in Pension geschickt. Dieses Erlebnis kann ich, glaub ich, nicht wiederholen.“