Der italienische Fußballer Bryan Cristante
AP/Martin Meissner
Nations League

EM-Finalisten erreichen Tiefpunkt

Nicht einmal ein Jahr ist es her, dass sich Italien und England bei der Euro 2021 im Finale in London gegenübergestanden sind und um die Krone Europas gekämpft haben. Nur elf Monate später ist der Glanz der beiden EM-Finalisten wieder verblasst. Mehr noch: Am Dienstag setzte es sowohl für Europameister Italien mit einem 2:5 in Deutschland als auch für die „Three Lions“ mit einem 0:4 daheim gegen Ungarn historische Pleiten.

„Italien, was für ein Anblick“, schrieb etwa die „La Gazzetta dello Sport“ nach dem Debakel in Mönchengladbach, dem ersten deutschen Sieg gegen die Italiener in einem Pflichtspiel nach 90 Minuten. „Eine Alptraumnacht in der Nations League. Deutschland schießt fünf Tore, die „Azzurri“ sind viel zu schlecht. Das war die härteste Lektion.“

„Tuttosport“ sprach von einem „blauen Desaster“ und „fünf Schritten zurück“. Erstmals seit 65 Jahren und einem 1:6 gegen Jugoslawien im Mai 1957 kassierte Italien wieder fünf Gegentore.

Deutschland jubelt gegen Italien

Deutschlands Nationalmannschaft durfte am Dienstag nach vier Unentschieden in Folge endlich wieder jubeln. Das Team von Hansi Flick konnte Italien mit 5:2 besiegen.

Der Neuanfang nach der verpassten WM-Qualifikation, die im März durch eine 0:1-Niederlage im Play-off daheim gegen Nordmazedonien besiegelt worden war, ging damit kräftig daneben. Von den EM-Helden ist praktisch nur noch Torhüter und Europameister-Kapitän Gianluigi Donnarumma übrig, nur vier Spieler über 25 Jahren standen bei den Italienern im Kader. „Für so etwas gibt es keine Entschuldigung. Heute hat bei uns gar nichts gepasst“, meinte Donnarumma, der aber daran erinnerte, dass die Spieler im fünften Spiel innerhalb von zwei Wochen sichtbar müde gewesen seien.

Der italienische Tormann Gianluigi Donnarumma
AP/Martin Meissner
Italien-Goalie Donnarumma, auf dem Weg zum EM-Titel noch ein sicherer Rückhalt, leistete sich zuletzt einige Patzer

Donnarumma legt sich mit TV-Reporterin an

Der 23-jährige Torhüter betonte aber, dass man keine Ausreden suchen wolle. „Es tut uns leid für die Fans, dass sie das sehen mussten. So geht das nicht“, sagte Donnarumma. Dann legte sich der Schlussmann von Paris Saint-Germain aber noch verbal mit einer TV-Reporterin an. Diese hatte ihn auf seinen Patzer vor dem 0:5 angesprochen und dabei bemerkt, dass Donnarumma zuletzt öfters Schwächen gezeigt habe. „Wer polemisch sein will, der soll polemisch sein“, meinte der Torwart. „Es gibt nicht einen Schuldigen, sondern nur das Team. Wenn du mir die Schuld geben willst für den Fehler, dann mach das, kein Problem.“

Die Medien schossen sich ohnehin nicht auf einen Spieler ein, sondern sprachen von kollektivem Versagen und nahmen Teamchef Roberto Mancini in die Pflicht. „Die schmerzhafteste Saison der Nationalmannschaft, in der zum zweiten Mal die WM verpasst wurde, endet mit einem Debakel“, bilanzierte „La Repubblica“. „Corriere della Sera“ meinte: „Kleines Italien. Gedemütigt von Deutschland, das uns quält und fünf Tore einschenkt. Jetzt muss Roberto Mancini (Teamchef, Anm.) erklären, was er von der Gegenwart und von seiner Zukunft hält.“ „La Stampa“ schrieb „Italien zerbröselt“. Der Unterschied an Klasse und Erfahrung sei viel zu groß.

England-Teamchef Southgate angezählt

Bei Vizeeuropameister England rückte unterdessen Trainer Gareth Southgate nach der schlimmsten Heimpleite in mehr als 90 Jahren ins Zentrum der Kritik. Im Gegensatz zu vielen Fans und einigen Experten wollte Kapitän Harry Kane von einer Entlassung Southgates nach dem 0:4 gegen Ungarn am Dienstag allerdings überhaupt nichts wissen. „Diese Frage sollte ich nicht mal beantworten, wenn ich ehrlich bin“, sagte Kane im britischen Fernsehen. „Das ist unsere erste große Niederlage seit langer Zeit. (…) Das war natürlich ein Abend zum Vergessen, aber wir müssen das einstecken und weitermachen."

Jubel und Enttäuschung im Nations-League-Spiel Ungarn gegen England
Reuters/Toby Melville
Die 0:4-Abfuhr daheim gegen Ungarn hinterlässt bei den „Three Lions“ tiefe Spuren

Viele der Zuschauer in Wolverhampton äußerten ihren Frust mit Buh-Rufen und Pfiffen sowie Gesängen in Richtung Southgate, die ihm unterstellten, keine Ahnung von dem zu haben, was er tue. Auch erste Experten stellten die Zukunft des Trainers, der England noch ins EM-Finale und 2018 ins WM-Halbfinale geführt hatte, infrage. Ex-Nationalspieler Gary Lineker beschränkte sich auf Twitter noch darauf, sich einen Spielstil wie den von Liverpool zu wünschen. Nach nur einem Tor in den vier sieglosen Nations-League-Partien der vergangenen zwei Wochen sagte Ex-Liverpool-Profi Stephen Warnock dem BBC-Radio aber: „Ich bin nicht sicher, dass er der richtige Mann ist."

Heimdebakel hinterlässt tiefe Spuren

Die höchste Heimniederlage seit einem 1:5 gegen Schottland 1928 sorgte in England für große Verunsicherung. „Wir haben nicht viele Fußballspiele verloren, und wenn du so schwer verlierst, insbesondere zu Hause, dann wird das in England sehr schmerzhaft“, sagte Southgate. „Natürlich ist so ein Abend schwierig, und es ist wichtig, dass ich das von ihren Schultern nehme, weil das absolut an mir lag.“ Nicht die Mannschaft, er selbst habe sich für die zahlreichen Wechsel und die taktische Ausrichtung des Teams entschieden. „Die Verantwortung dafür liegt bei mir. Es war schwer, in jedem Spiel die stärkste Mannschaft rauszuschicken, also haben wir es als Vorbereitung für Katar genutzt“, sagte er.

Vizeeuropameister England im Tief

Nach dem 0:4 gegen Ungarn befindet sich Vizeeuropameister England im Tief. Für die Engländer war das die höchste Heimniederlage seit 94 Jahren. Teamchef Gareth Southgate steht seither in der Kritik.

„Ich habe Mitgefühl, weil ich speziell für die beiden Spiele gegen Ungarn Mannschaften ausgewählt habe, in denen ich versucht habe, das Team auszubalancieren und jungen Spielern eine Möglichkeit zu geben. Diese Balance habe ich nicht hinbekommen, um auf einem Level abzuliefern, das notwendig war, um diese Spiele zu gewinnen.“ Southgates Mannschaft bleibt damit auf dem letzten Tabellenplatz, der am Ende den Abstieg in die B-Liga bedeuten würde. Die überraschend starken Ungarn dagegen führen die Gruppe nach vier Spieltagen vor Deutschland und Italien an.

Ungarn-Trainer Rossi spricht von „Wunder“

Die Gemütslage bei Deutschland, das nach vier 1:1-Partien im Prestigeduell gegen Italien den ersehnten Erfolg einfuhr, und vor allem bei den Ungarn nach dem zweiten Sieg gegen England innerhalb von zehn Tagen war naturgemäß eine andere. Ungarn-Coach Marco Rossi sprach gar von einem „Wunder“ der Magyaren. Als er 2018 den Job als Teamchef angenommen habe, habe er der ungarischen Staatsspitze gesagt, er wolle etwas hinterlassen, so der 57-jährige Italiener. Das habe er nun erreicht. „Wenn ich sterbe, bin ich sicher, dass es in den Stadien in Ungarn eine Schweigeminute geben wird. Das ist eine große Leistung für mich.“