Jubelnde England-Spielerinnen
Reuters/Dylan Martinez
Fußball-EM

England feiert sein „Sommermärchen“

Nach vielen Enttäuschungen hat England im Erwachsenen-Fußball wieder einmal einen Titel zu feiern. Die „Lionesses“ rundeten am Sonntag mit dem 2:1 nach Verlängerung gegen Deutschland in Wembley das „Sommermärchen“ im eigenen Land ab und jubelten ausgelassen über ihren ersten EM-Triumph. Rekordsieger Deutschland tat die knappe Pleite „schweineweh“, die Verantwortlichen haderten mit dem Video Assistant Referee (VAR).

„It’s come home“ („Er ist nach Hause gekommen“) titelte das Boulevardblatt „The Sun“ in Anlehnung an das lange Warten auf einen Pokal im englischen Erwachsenen-Fußball. Nur bei der Herren-WM 1966 hatte man ebenfalls den Titel geholt, 56 Jahre später gelang auch den Frauen ihr erster ganz großer Wurf. Wieder in Wembley, wieder in einem Endspiel gegen Deutschland, wieder nach Verlängerung.

„Ich bin noch immer schockiert, kann nicht glauben, dass wir tatsächlich den EM-Titel gewonnen haben. Ich bin so stolz auf das gesamte Team“, sagte Beth Mead, die gemeinsam mit Alexandra Popp mit je sechs Treffern Torschützenkönigin und als Spielerin des Turniers ausgezeichnet wurde. Matchwinnerin vor der Rekordkulisse von 87.192 Zuschauern und Zuschauerinnen im Wembley war aber Chloe Kelly.

Ekstase in England

Der Triumph bei der Fußballeuropameisterschaft hat Englands Sportwelt in Ekstase versetzt. Mit dem zweiten großen Titel nach endlos langer Durststrecke ist für Englands Fans die Fußballwelt wieder voll und ganz im Lot.

„Stoff, aus dem Träume gemacht sind“

Die Stürmerin von Manchester City riss sich im Mai 2021 das Kreuzband, schaffte es aber rechtzeitig zum Turnier und erzielte als „Joker“ das Tor zum Triumph. „Das ist der Stoff, aus dem Träume gemacht sind“, jubelte die 24-Jährige, die sich nach ihrem Treffer in der 110. Minute in der Verlängerung das Trikot vom Leib riss und euphorisch feierte.

Englands Chloe Kelly rennt mit ihrem Trikot in der Luft über den Rasen
AP/Rui Vieira
Vor 14 Monaten riss sich Chloe Kelly das Kreuzband, am Sonntag das Trikot vom Leib

Wiegman als Schlüsselfigur

Ein Triumph war es vor allem auch für Sarina Wiegman, die vor fünf Jahren mit ihrer Heimat Niederlande den EM-Titel zu Hause geholt hatte und nun auch England daheim zum Triumph führte. „Ich bin so stolz auf das Team, was wir geleistet haben, ist unglaublich“, so die 52-Jährige, die auch den Rückhalt spürte. „Wir hatten ganz England hinter uns, das haben wir gesehen, als wir ins Stadion gefahren sind.“

Danach wurde wie schon während der dreieinhalb Wochen ausgiebig gefeiert und getanzt. Kurz nach dem Schlusspfiff von Schiedsrichterin Kateryna Monsul dröhnte der Refrain „Football’s coming home“ aus den Lautsprechern, gefolgt von „Sweet Caroline“. Traditionell ist mittlerweile auch das Crashen von Pressekonferenzen, in dem auch Österreichs Fußballerinnen schon viel Erfahrung gesammelt haben.

„Jetzt ist Zeit zu feiern“

„Ich glaube, wir haben den Pokal gewonnen“, scherzte Wiegman, die das Geschehen amüsiert verfolgte. „Jetzt ist Zeit zu feiern“, sagte sie. Kurz darauf wurde die Trainerin emotional und erklärte, warum sie während des Spiels ihr Armband geküsst hatte. „Es hat meiner Schwester gehört, die Anfang des Jahres gestorben ist. Ich habe sie heute vermisst, aber ich glaube sie war im Querbalken“, so Wiegman punkto eines Aluminiumtreffers der Deutschen Lina Magull. „Meine Schwester wäre auch sehr, sehr stolz gewesen“, so Wiegman weiter.

Stolz spielte eine große Rolle, schließlich stand England bei seiner Heim-EM unter Dauerdruck, legte aber letztlich einen Start-Ziel-Sieg hin. „Wir haben immer wieder darüber gesprochen, und am Ende haben wir es geschafft. Ich war noch nie so stolz in meinem Leben, deshalb werde ich jede einzelne Sekunde genießen. Das Vermächtnis dieses Turniers und dieses Teams ist eine Veränderung in der Gesellschaft. Wir haben alle zusammengebracht“, betonte Kapitänin Leah Williamson, die am Ende den Pokal vom Präsidenten des englischen Fußballverbandes, Prinz William, überreicht bekam.

Royals und Lineker gratulieren

Auch Williams Großmutter, Queen Elizabeth II., ließ ihre Glückwünsche ausrichten. „Inspiration für Mädchen und Frauen heute und für zukünftige Generationen“, erklärte die 96-jährige Monarchin. Und auch Englands oberster Fußballexperte Gary Lineker meldete sich zu Wort und korrigierte seinen legendären Satz. „Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Frauen jagen für 90 Minuten dem Ball nach und am Ende gewinnt tatsächlich England.“ Im Original heißt es Männer statt Frauen und Deutschland statt England, aber am Sonntag war einmal alles anders.

Prinz William und UEFA-Präsident Aleksander Ceferin überreichen Leah Williamson den Euro 2022 Pokal
Reuters/Lisi Niesner
Gemeinsam mit UEFA-Präsident Aleksander Ceferin überreichte Prinz William die Trophäe an Leah Williamson

Montagmittag gab es auf dem berühmten Trafalgar Square in London einen großen Empfang für die EM-Heldinnen. Der EM-Titel der „Lionesses“ werde für den Frauenfußball im Land wie ein Turbo wirken, sagte der Chef des englischen Fußballverbands FA, Mark Bullingham, der BBC. „Die vergangenen Jahre waren unglaublich. Wir haben wirklich viel investiert, und die ‚Lionesses‘ haben die Chance genutzt und etwas Unglaubliches geschafft“, sagte Bullingham. „Wir haben uns seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet.“

Die sportlichen Ansprüche steigen weiter. „Die Erwartungen werden jetzt durch die Decke gehen“, wusste Wiegman. Wie auch jetzt, werde es auch bei der WM 2023 in Australien und Neuseeland nicht einfach sein, den Titel zu holen. Ihre Spielerinnen haben Lunte gerochen. „Jetzt müssen wir schauen, die WM zu gewinnen“, sagte Abwehrspielerin Lucy Bronze. Vorerst gilt es, die Qualifikation im September erfolgreich abzuschließen, da wartet am 3. September als nächste Pflichtspiel-Hürde in Wiener Neustadt Österreich.

Deutschland tut es „schweineweh“

Wo große Freude, da auch großer Frust. Deutschland verlor ein ausgeglichenes Finale knapp. „Wir waren nah dran, vor allem nach dem 1:1. Wir sind schon mega unglücklich“, räumte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg ein. Svenja Huth, die die verletzte Torjägerin Popp als Kapitänin vertrat, meinte: „Es tut einfach schweineweh, so kurz vor Schluss das 1:2 zu bekommen. Das müssen wir sacken lassen.“

Die DFB-Verantwortlichen haderten nach dem verlorenen Finale auch mit den Videoassistenten. Dabei ging es um die Szene in der 26. Minute beim Stand von 0:0, als ein mögliches Handspiel von Englands Kapitänin Leah Williamson im Strafraum überprüft wurde. Einen Elfmeter gab es aber nicht. Voss-Tecklenburg sprach von einem „klaren Handspiel“. Auf die Frage, ob ihr Team da betrogen wurde, antwortete die 54-Jährige: „Das Wort will ich nicht in den Mund nehmen. Aber auf dem Niveau bei einem EM-Finale darf das nicht passieren.“

Die Spielerinnen, die schon während des Spiels nicht reklamierten, thematisierten das Handspiel auch danach nicht groß. Am Ende überwog der Stolz, ging man doch nur als Außenseiter ins Turnier. „Ich finde einfach, dass wir als Team unfassbar gut funktioniert haben“, so Voss-Tecklenburg. „Ich würde mir sehr, sehr wünschen, dass wir das morgen in Deutschland hautnah spüren, was da ja anscheinend losgetreten wurde“, merkte die Trainerin, deren Team in den vergangenen Wochen enorm an Popularität hinzugewonnen hat, an.

UEFA Women’s Euro 2022, Finale

Sonntag:

England – Deutschland 2:1 n. V. (0:0, 1:1)

London, Wembley-Stadion, 87.192 Zuschauer, SR Monsul (UKR)

Torfolge:
1:0 Toone (62.)
1:1 Magull (79.)
2:1 Kelly (110.)

England: Earps – Bronze, Bright, Williamson, Daly (88./Greenwood) – Stanway (88./Scott), Walsh – Mead (64./Kelly), Kirby (56./Toone), Hemp (119./Parris) – White (56./Russo)

Deutschland: Frohms – Gwinn, Hendrich, Hegering (103./Doorsoun), Rauch (113./Lattwein) – Oberdorf, Däbritz (73./Lohmann) – Huth, Magull (91. Dallmann), Brand (46./Waßmuth) – Schüller (67./Anyomi)

Gelbe Karten: Stanway, White bzw. Rauch, Oberdorf, Schüller