Die weinenden brasilianischen Teamspieler Neymar und Dani Alves
Reuters/Hannah Mckay
FIFA WM 2022

Brasilien wieder im Tal der Tränen

Die Leidenszeit der brasilianischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft ist um ein weiteres Kapitel reicher. Nach dem Aus im Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Kroatien verlängert sich das Warten des Rekordweltmeisters auf den sechsten Titel auf zumindest 24 Jahre. Superstar Neymar wollte sich in Katar seinen größten Traum erfüllen, seine Zukunft im Team ist offen. Die Fußballnation ist wieder im Tal der Tränen.

„Ich schließe die Tür nicht. Aber ich garantiere auch nicht zu 100 Prozent, dass ich zurückkehren werde“, sagte der 30-Jährige nach dem bitteren Aus gegen Kroatien. Mit seinem 77. Teamtor zog Neymar in der ewigen Torschützenliste des fünffachen Weltmeisters mit Legende Pele gleich. Nach dem Treffer in der Verlängerung (105.+1) samt davor dominanter Vorstellung wähnten sich die Brasilianer bereits so gut wie sicher im Halbfinale. Eine Unachtsamkeit bescherte Kroatien aber im Finish noch den Ausgleich. Im Elferkrimi scheiterten die Südamerikaner mit 2:4, in der Heimat verfiel das Land wieder einmal in Trauer.

„Der Alptraum der Viertelfinale: Brasilien verliert im Elfmeterschießen und ist raus aus der WM. Kroatien sucht in der Verlängerung das Unentschieden und gewinnt, nachdem die ‚Selecao‘ zwei Elfmeter verschießt“, schrieb die Tageszeitung „Folha de Sao Paulo“. Seit dem letzten Titelgewinn 2002 scheiterte Brasilien mit einer Ausnahme immer im Viertelfinale, 2014 verlor man das Halbfinale im eigenen Land gegen den späteren Weltmeister Deutschland unvergessen mit 1:7.

Kroatien wirft Brasilien aus Turnier

Kroatien hat sich am Freitag als erste Mannschaft bei der WM in Katar für das Halbfinale qualifiziert. Der Vizeweltmeister besiegte Brasilien nach einem spannenden Spiel in einem nervenaufreibenden Elferschießen, wo Kroatiens Tormann Dominik Livakovic erneut aufzeigte.

Es war kurz vor Mitternacht in Doha, als Neymar durch das gedämpfte Licht der Stadiongänge schlich. Bei fast jedem Journalisten blieb er kurz stehen. Woran hat es gelegen? Warum ist die „Selecao“ schon wieder im Viertelfinale einer Weltmeisterschaft ausgeschieden? Und überhaupt: Was wird jetzt aus ihm, dem talentiertesten Spieler einer ungekrönten Generation? Neymar ließ die Frage offen. Er werde jetzt erst ein wenig über alles nachdenken müssen, lautete die Antwort.

„Leider haben wir unseren Traum nicht erreicht“

Ihm näherstehende Beobachter erzählen, dass sich der Angreifer von Paris Saint-Germain so professionell wie noch nie auf diese Endrunde vorbereitet habe. Diese WM sollte seine werden. Nur der goldene Pokal fehlte ihm noch, um dem Status eines Pele näherzurücken. Jetzt könnte er für immer die unvollendete Nummer zehn bleiben.

Der brasilianische Teamchef Tite tröstet seine Spieler
IMAGO/Sports Press Photo/Marcio Machado/SPP
Nach sechs Jahren endet die Amtszeit von Teamchef Tite – ohne WM-Titel

„Leider haben wir unser Ziel nicht erreicht, unseren Traum“, sagte Neymar schwer enttäuscht. „Es ist ein Detail, das darüber entscheidet, ob du weiterkommst oder nicht.“ Dieses eine Detail, er schien es eigentlich auf seiner Seite zu haben. Nach zuvor durchwachsenen 105 Minuten zeigte Neymar, warum Tite ihn trotzdem auf dem Feld gelassen hatte. Er spielte zwei Doppelpässe, umkurvte Goalie Dominik Livakovic und schoss das 1:0. Es war ein Tor ohne Wert. Pele gratulierte dennoch aus der Ferne. „Endlich kann ich dich dazu beglückwünschen, mit meiner Anzahl an Toren für die ‚Selecao‘ gleichgezogen zu haben“, schrieb der an Krebs erkrankte 82-Jährige via Instagram.

„Es ist uns entglitten“

In der Elferentscheidung trat Neymar nicht mehr an. Tite hatte ihn als fünften und entscheidenden Schützen vorgesehen. Dazu kam es aber nicht mehr, weil Rodrygo scheiterte, Marquinhos an die Stange schoss und die Kroaten alle ihre Versuche verwerteten. Anstatt Brasilien ins Halbfinale zu schießen, sackte Neymar auf dem Rasen des Education City Stadiums zusammen. Erst kauerte er allein gelassen in der Nähe des Mittelpunktes. Später flossen auch bei ihm die Tränen.

Die vor dem Viertelfinale überragenden Brasilianer wurden in dem Moment gestoppt, in dem ganz Südamerika schon vom Superclasico gegen Argentinien am Dienstag im Halbfinale träumte. „Wir hatten es in der Hand, und es ist uns entglitten“, sagte Führungsspieler Casemiro nach der Niederlage. „Wir sind traurig, aber wir stehen wieder auf und schauen nach vorne“, so Kapitän Thiago Silva.

Richarlison sehr emotional

Stürmer Richarlison hat unterdessen sehr emotional auf das überraschende Aus reagiert. „Die Wahrheit ist, dass der Fußball, der mir alles gegeben hat, was ich habe, der viele Male mein Leben gerettet hat, dass dieser Fußball mir gestern den härtesten Schlag versetzt hat, den ich je abbekommen habe“, schrieb der 25-Jährige am Samstag auf Instagram. „Das ist eine Wunde, die für immer bleiben wird, weil wir alle um die Chance wissen, die wir hatten, diesen Titel zu holen.“

Spekulationen um neuen Tite-Nachfolger

Das Warten geht weiter, mindestens bis zur WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada. Die Aufbauarbeit wird nun ein anderer Trainer leisten müssen, denn der Abschied von Tite nach der WM ist schon seit Monaten beschlossene Sache – ganz unabhängig vom Ausgang der WM. In der Stunde des Scheiterns wollte Tite die Schuld nicht allein auf sich nehmen. „Ich verstehe, dass ich die Hauptverantwortung trage, ich bin kein Heuchler. Aber ich bin nicht alleine verantwortlich, wir sind alle verantwortlich“, sagte der 61-Jährige.

Anders sahen das naturgemäß brasilianische Medien wie „Estado de Sao Paulo“: „Sechs Jahre Arbeit, der Absturz auf gleicher Höhe (Viertelfinale, Anm.) und von Neuem gegen einen europäischen Gegner (wie 2018 gegen Belgien, Anm.). Und von Neuem einige ähnliche Fehler. Aufstellung, Auswechslungen, Entscheidungen. Tite wurde kein Spitzentrainer bei der Führung der ‚Selecao‘, weil er schlecht war in der Stunde, in der die Stärksten aufeinandertreffen.“

Wer nun sein Nachfolger wird, ist offen. Unmittelbar nach dem Spiel spekulierten brasilianische Medien über etliche Kandidaten – von Josep Guardiola bis hin zu Jorge Sampaoli.

FIFA WM 2022, Viertelfinale

Freitag:

Kroatien – Brasilien 1:1 n. V. (0:0 0:0) 4:2 i. E.

Doha, Education City Stadium, 43.893 Zuschauer, SR Oliver (ENG)

Torfolge:
0:1 Neymar (105.+1)
1:1 Petkovic (117.)

Elfmeterschießen:
1:0 – Vlasic trifft mittig souverän für Kroatien
1:0 – Livakovic hält den Elfer von Rodrygo
2:0 – Majer erhöht ebenfalls mittig auf 2:0
2:1 – Casemiro jagt den Ball für Brasilien ins Netz
3:1 – Modric verwandelt cool für Kroatien
3:2 – Pedro verkürzt für Brasilien
4:2 – Orsic hält den Druck aufrecht und trifft genau ins Eck
4:2 – Marquinhos trifft nur die Stange

Kroatien: Livakovic – Juranovic, Lovren, Gvardiol, Sosa (110./Budimir) – Modric, Brozovic (114./Orsic), Kovacic (106./Majer) – Pasalic (72./Vlasic), Perisic – Kramaric (72./Petkovic)

Brasilien: Alisson – Eder Militao (106./Alex Sandro), Marquinhos, Thiago Silva, Danilo – Paqueta (106./Fred), Casemiro – Raphinha (56./Antony), Neymar, Vinicius jr. (64./Rodrygo) – Richarlison (84./Pedro)

Gelbe Karten: Brozovic, Petkovic bzw. Danilo, Casemiro, Marquinhos

Die Besten: Livakovic, Modric, Juranovic bzw. Casemiro, Neymar, Marquinhos