enttäuschter Joshua Kimmich
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Fußball

Bayerns Talfahrt verlangt Aufarbeitung

Wenn Borussia Dortmund am kommenden Samstag (15.30 Uhr) nicht überraschend patzt, heißt der deutsche Meister zum ersten Mal nach zehn Jahren in Folge nicht Bayern München. Der Rekordchampion legte im Frühjahr eine beispiellose Talfahrt hin, die unabhängig vom Ausgang der Saison eine Aufarbeitung verlangt. Zwei Tage nach dem Saisonfinale tagt der Aufsichtsrat, und dabei scheinen Konsequenzen in verschiedene Richtungen möglich.

„So kann es nicht weitergehen beim FC Bayern. Es muss jetzt eine knallharte Analyse geben und eine schonungslose Aufarbeitung mit Konsequenzen, auf und neben dem Platz. Ohne Rücksicht auf Namen oder Positionen. Es wurden insgesamt viel zu viele Fehler gemacht“, sagte etwa TV-Experte und Kolumnist Lothar Matthäus.

Während die einen Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn in der Kritik und damit wackeln sehen, sieht Matthäus wie angeblich auch mancher Spieler die Schuld bei Sportvorstand Hasan Salihamidzic. Dieser habe Fehler gemacht und offenbar nicht nur gute Transfers getätigt. „Wir haben ihn alle für die tollen Namen gelobt, aber diese Mannschaft hat keinen Biss, keinen Willen, keine richtige Identifikation mit diesem Verein. Sonst würden sie anders Fußball spielen“, so der 62-Jährige, der vor allem der Nichtverpflichtung von Erling Haaland nachtrauert.

Lothar Matthäus
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Der frühere Weltmeister Lothar Matthäus findet zur Bayern-Situation klare Worte

Auch andere Experten melden sich dieser Tage viel zu Wort und suchen nach Erklärungen. Für den früheren Profi Didi Hamann trägt dabei auch Neo-Bayern-Trainer Thomas Tuchel Verantwortung: „Wenn ich einen neuen Trainer habe, der in elf Partien häufiger verliert als sein Vorgänger in 37, kann ich nicht sagen, dass nur die Mannschaft schuld ist. Der Trainer hat auch einen Anteil daran, wie viel, wissen wir nicht.“

Ein früherer Bayern-Kapitän, Stefan Effenberg, erkennt aufgrund der vielen Rückfälle in dieser Saison – beim 1:3 gegen Leipzig wurde zum achten Mal ein Vorsprung verspielt – körperliche Probleme: „Ich habe den Anschein, dass sie nicht in der Lage sind, über 90 Minuten zu marschieren.“ Ein anderer, Michael Ballack, rechnet wie wohl die meisten im Umfeld der Bayern mit personellen Konsequenzen: „In erster Linie im Kader. Aber auch in der Führung wird nachgedacht.“

Bayern vor sportlichem Super-GAU

Nun stehen die Münchner tatsächlich vor dem sportlichen Super-GAU: Nach dem vorzeitigen Aus in der Champions League und im DFB-Pokal, jeweils im Viertelfinale, scheint auch die Meisterschaft dahin, und so würde man erstmals seit 2012 mit leeren Händen dastehen. Damals wurde man dreimal Zweiter, es folgte eine Zäsur – und eine Dynastie, die nicht nur den Gewinn von eben zehn Meisterschaften beinhaltete, sondern auch fünfmal den DFB-Pokal und zweimal die Königsklasse.

Oliver Kahn und Hassan Salihamidzic
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Präsident Hainer, Vorstandsboss Kahn und Sportchef Salihamidzic: Die Münchner Mundwinkel hängen

Rund um das historische Jahr 2020, in dem man gleich sechs Titel („Sextuple“) holte, verabschiedeten sich mit dem allgegenwärtigen Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge zwei Bosse aus dem operativen Geschäft und machten den Weg für Oliver Kahn und auch Hasan Salihamidzic frei. Und diese stehen jetzt vor den Trümmern einer Saison, deren Knackpunkt die Entlassung von Julian Nagelsmann war.

Nagelsmann-Aus als Knackpunkt

In den Iden des März schien die Bayern-Welt noch halbwegs in Ordnung, die Bayern führten die Tabelle mit acht Punkten Vorsprung auf Dortmund an, standen im Viertelfinale des DFB-Pokals und hatten in der Champions League das Starensemble um Paris Saint-Germain relativ souverän eliminert. Eine 1:2-Niederlage in Leverkusen später kam es zum Knall: Die Münchner trennten sich von Nagelsmann, den sie vor zwei Jahren für die Rekordablöse von 25 Millionen Euro von RB Leipzig geholt hatten und setzten auf Startrainer Thomas Tuchel.

Die Konstellation zwischen Trainer und Mannschaft habe nicht mehr gepasst, verteidigten damals Kahn und Salihamidzic die Entscheidung, die Fußballeuropa aus den Sesseln hob. Einem 35-Jährigen, der sich bei Stationen wie der TSG Hoffenheim und RB Leipzig nachweislich als Trainertalent hervorgetan hat, wurden bei den Bayern keine zwei Jahre Zeit gegeben, obwohl er eben noch Chancen auf alle drei Titel hatte. Die Leistungsschwankungen nach der Winterpause und dass Tuchel zur Verfügung gestanden habe, hätten für den Wechsel gesprochen.

Tuchel verspielt mit Bayern alles

Tuchel gewann zwar dann noch den Ligagipfel gegen Dortmund „bayernlike“ mit 4:2, danach ging aber so ziemlich alles den Bach hinunter. 1:2-Heimpleite im DFB-Pokal gegen Freiburg, Aus in der Champions League gegen Manchester City inklusive handfesten Kabinenstreits zwischen Sadio Mane und Leroy Sane und wohl auch die Meisterschaft, die man nicht mehr in den eigenen Händen hält.

Der neue Bayern-Coach präsentierte sich am Samstag nach dem 1:3 gegen RB Leipzig fassungs- und ratlos. „Es ist einfach zu wenig Aufwand, deutlich unter dem, was wir spielen wollen. Wir haben so viele Themen, man weiß nicht mehr, wo man anfangen soll.“ Ähnlich ergeht es auch Salihamidzic. „Die Probleme sitzen tief. Ich kann aber nicht sagen, was unsere Probleme sind“, so der Ex-Profi, der den von ihm zusammengestellten Kader unter die Lupe nehmen möchte. „Wir werden uns nach der Saison zusammensetzen und schauen, was zu machen ist.“

Spieler ebenso in der Kritik

Auch wenn die Bayern unter Nagelsmann noch in allen drei Bewerben vertreten waren, war die Saison weit weg von ideal. Insgesamt ist es nun die schwächste seit zwölf Jahren, unter Nagelsmann leistete man sich auch eben wieder extreme Formschwankungen. „Ein Spiegelbild der Saison. Es waren zu viele Spiele so wie heute“, sagte mit Joshua Kimmich einer der Anführer im Spiel der Bayern nach der Pleite gegen Leipzig, die viele Zuschauer nicht bis zum Ende im Stadion verfolgten.

enttäuschter Sadio Mane
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Sadio Mane war vor einem Jahr der Königstransfer, nun könnte er im Sommer wieder gehen

Weil Tuchel auf dem Markt war, entschied man sich für ihn und gegen Nagelsmann, dem die Bayern-Führung nicht mehr zutraute, das Schiff in den Hafen zu führen. Der hätte das auch lieber erst im Sommer gemacht („Aber es ist nicht immer ein Wunschkonzert“), wohl wissend, was auf ihn zukommen könnte. Der Worst Case steht kurz bevor, auch weil neue Starspieler wie Mane nie in die Spur gefunden haben.

„Was will der FC Bayern sein?“

Was natürlich auch an den Spielern selbst liegt, der Marktwert des Kaders beläuft sich auf fast schon das Doppelte von Dortmund. „Wenn wir aufhören, nach unseren Prinzipien zu spielen, dann wird es ein Würfelspiel. Dann gewinnen wir halt oder verlieren halt“, kritisierte Tuchel, dessen Bayern für den „kicker“ „in der Sackgasse“ stecken.

Die Fachblätter sehen überhaupt eine Identitätsdebatte auf die Bayern zukommen, die in zwei Jahren in Folge mit Robert Lewandowski einen Torgaranten und mit David Alaba einen absoluten Leistungsträger, der offenkundig die Mannschaft zusammenhielt, nicht ersetzten. Die „Süddeutsche Zeitung“ fragte daher: „Was will der FC Bayern sein?“ Bald nach Saisonende soll darauf eine Antwort gefunden werden.

Deutsche Bundesliga, 34. Runde

Samstag, 27. Mai:
Dortmund Mainz 2:2
Köln Bayern München 1:2
Leipzig Schalke 4:2
Union Berlin Bremen 1:0
Frankfurt Freiburg 2:1
Bochum Leverkusen 3:0
Mönchengladbach Augsburg 2:0
Wolfsburg Hertha BSC 1:2
Stuttgart Hoffenheim 1:1

Tabelle: