Radsport

Kiesenhofers unglaublicher Goldcoup

Der 25. Juli 2021 geht definitiv in die österreichische, aber auch in die olympische Geschichte ein. Als Tag, an dem eine „Amateurin“, die gar nicht in diesem Bewerb starten wollte, die Konkurrenz überrumpelte und von ihren Gegnerinnen mehr oder weniger unbemerkt zu einer der größten Sportsensationen radelte. Anna Kiesenhofer hat am Sonntag bei den Sommerspielen in Tokio die Goldmedaille im Straßenrennen gewonnen.

Dass Kiesenhofer vorne war, wussten die anderen Fahrerinnen offenbar nicht, denn die zweitplatzierte Niederländerin Annemiek van Vleuten jubelte bei der Zieldurchfahrt über ihren vermeintlichen Gewinn der Goldmedaille. Erst nachher erfuhr sie von Betreuern vom Husarenritt der Österreicherin.

Als absolute Außenseiterin eroberte die 30-jährige Kiesenhofer nicht nur das erste Edelmetall des rot-weiß-roten Teams in Japan, sondern auch die erste Goldmedaille für Österreich bei Sommerspielen seit 2004 und die erste Goldmedaille im Radsport seit 125 Jahren, als Adolf Schmal 1896 in Athen in einem kuriosen Zwölfstundenrennen auf der Bahn Gold holte.

Die österreichische Radfahrerin Anna Kiesenhofer.
APA/AFP/Michael Steele
Mit dem Rennen ihres Lebens sorgte Kiesenhofer für eine der größten Überraschungen der Radsportgeschichte

Kuriose Erfolgsgeschichte

Ebenso kurios und in der modernen, hochprofessionellen Sportwelt des 21. Jahrhunderts mutet die (Erfolgs-)Geschichte von Kiesenhofer an. Ihre Leistung wird umso erstaunlicher, weil die Niederösterreicherin aus Niederkreuzstetten im Weinviertel seit 2018 in keinem Team fährt und das Einzelzeitfahren dem Straßenradsport aus unterschiedlichen Gründen vorzieht.

Gleich nach dem Start initiierte sie aber eine fünfköpfige Spitzengruppe, ließ in der Folge die Mitstreiterinnen auf der 137-km-Strecke zurück und triumphierte nach einer 41-km-Solofahrt. Bisher waren ihre akademischen Leistungen – ein Mathematik-Master der Universität Cambridge und ein Doktortitel der Universität von Barcelona – das Aushängeschild in ihrem Lebenslauf. Das dürfte sich nun als Olympiasiegerin geändert haben.

„Muss ich weiterfahren?“

Im Ziel auf dem Fuji-Speedway triumphierte sie mit 1:15 Minuten Vorsprung auf die Niederländerin van Vleuten und 1:29 auf die Italienerin Elisa Longo Borghini, die auch schon 2016 in Rio Dritte war. Nur mit großer Mühe nahm sie die Arme vom Lenker, schüttelte ungläubig den Kopf und ließ sich schließlich völlig ausgepumpt als Olympiasiegerin auf die Zielgerade des Fuji International Speedway fallen.

„Das ist unglaublich. Sogar als ich über die Linie gefahren bin, dachte ich: ‚Ist es nun vorbei, muss ich weiterfahren?‘“, so die selbst überraschte Kiesenhofer. „Es war eine kleine Hoffnung da, aus einer Gruppe eine Medaille zu holen, und ich habe es geschafft.“

Kiesenhofer über ihren Sieg als „Underdog“

Für Goldmedaillengewinnerin Anna Kiesenhofer hat am Sonntag „alles gepasst“. Sie hatte den Mut zu attackieren und konnte sich zum perfekten Zeitpunkt von der übrigen Gruppe absetzen. Zudem hatte sie ihrer Meinung nach den Vorteil, von der Konkurrenz als „Underdog“ gesehen zu werden, weil diese einer bekannteren Fahrerin wohl nicht so viel Vorsprung gelassen hätte.

„Es ist schwer zu begreifen. Im Straßenrennen spielt Glück ein Rolle“, sagte die Sensationssiegerin im ORF. „Ich hatte den Mut zu attackieren, war die Stärkste der Gruppe und bin weggefahren. Am Ende war ich die Beste. Der Faktor ‚Überraschung‘ war auf meiner Seite. Das war ein Glück, dass ich ein Underdog war. Umso besser, dass man mich ‚vergessen‘ hat, als ich vorne weggefahren bin.“

Unbemerkt von der Konkurrenz

Die Mathematikerin düpierte mit dem frühen Angriff und dem Durchhalten bis ins Ziel, das im modernen Radsport seinesgleichen sucht, die von den Niederländerinnen angeführte Konkurrenz. Die Asse wie Rio-Olympiasiegerin Anna van der Breggen und Ex-Weltmeisterin van Vleuten verrechneten sich, sie hatten die ihnen weitgehend unbekannte Wissenschaftlerin und Rad-„Amateurin“ offensichtlich unterschätzt.

Die niederländische Radfahrerin Annemiek Van Vleuten verfolgt zusammen mit anderen Athleten die Führende Anna Kiesenhofer.
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Die Medaillenanwärterinnen im Feld belauerten einander, in dem Glauben, sich den Sieg untereinander auszufahren

„Ich dachte, die Niederländerinnen hätten alles in ihren Händen, aber am Ende verlierst du manchmal das Rennen, wenn du zu viel taktierst und denkst, du bist am stärksten. Erst als wir die Polin und die andere Fahrerin (Anna Plichta und Omer Shapira; Anm.) eingeholt hatten, haben wir realisiert, dass da noch eine andere vorne war“, sagte die Bronzemedaillengewinnerin Elisa Longo Borghini aus Italien.

„Was kann man falsch einschätzen, was man nicht kennt?“

Noch tiefer saß der „Schock“, nicht gewonnen zu haben, bei van Vleuten: „Wir dachten, wir machen alles richtig. Wir haben die Polin und die Israelin eingeholt und dachten, wir würden um die Goldmedaille fahren. Ich denke nicht, dass wir sie (Kiesenhofer, Anm.) unterschätzt haben. Ich kenne sie nicht. Was kann man falsch einschätzen, wenn man jemanden nicht kennt.“

Die niederländische Radfahrerin Annemiek Van Vleuten jubelt bei der Zieldurchfahrt.
APA/AFP/Greg Baker
Der bittere Moment, als Annemiek van Vleuten über ihr vermeintliches Olympiagold jubelte

Van Vleuten hatte ohne Funkverbindung zum Betreuerauto auch nicht um die exakte Rennsituation gewusst. Denn die früh in einen Sturz verwickelte 38-Jährige hatte geglaubt, die Ausreißerinnen seien eingeholt und war jubelnd ins Ziel gerollt. „Es gab große Verwirrung, wir haben einander gefragt, wer gewonnen hat“, sagte van Vleuten und kritisierte das Reglement, das anders als auf der WorldTour keinen Funk erlaubt. „Im wichtigsten Rennen in vier Jahren keine Kommunikation zu erlauben ist nicht professionell.“

Am Rande der Erschöpfung

Kiesenhofer hatte schon Minuten zuvor für die Vorentscheidung gesorgt. „Ich wusste, dass ich die Stärkste der Spitzengruppe war. Ich bin in der Abfahrt recht gut, und dann war es nur noch ein Einzelzeitfahren bis ins Ziel“, schilderte die Siegerin den vorentscheidenden Moment, in dem sie sich von den zwei verbliebenen Fluchtgefährtinnen abgesetzt hatte.

Siegerehrung: Rad-Goldmedaille für Anna Kiesenhofer

Die letzten Kilometer seien die härtesten ihrer Karriere gewesen, so Kiesenhofer. „Meine Beine waren völlig leer. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so verausgabt, ich konnte kaum noch treten, es war keine Energie mehr da.“

Sie habe in den letzten eineinhalb Jahren so viel für diesen speziellen Tag geopfert. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das so vollende. Ich hätte es auch für einen Top-15-Platz gemacht, aber nun diese Belohnung bekommen zu haben, das ist unglaublich.“ Wenig später erhielt sie vom Großherzog von Luxemburg, Henri von Nassau, die Goldmedaille. Im Rad-Dress atmete sie bei der Bundeshymne auf dem Siegespodest noch einmal tief durch.

„Ich mache lieber Hobbysport“

Der 55 kg leichten Österreicherin, im Teamauto von Nationaltrainer Klaus Kabasser betreut, fehlt die Erfahrung von großen Straßenrennen. Im engen Pulk fühlt sie sich nicht so wohl. Kiesenhofer hatte die 2017 begonnene Profikarriere bei einem belgischen Team noch im selben Jahr wieder beendet.

„Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist und ich lieber nur Hobbysport mache“, betonte sie im Vorfeld der Spiele. Es folgten zwei Jahre ohne Rennen und ab 2019 ein Neubeginn mit jeweils nur ausgewählten Bewerben. Neben einem internationalen Sieg bei der Ardeche-Rundfahrt 2016 hat sie „nur“ Erfolge in der Heimat vorzuweisen, zuletzt drei ÖRV-Titel im Einzelzeitfahren und einen 2019 im Straßenrennen.

Kiesenhofers Liebe zum Einzelzeitfahren

Im Finish kamen der Wahl-Schweizerin, die Training und Ernährung selbst plant, die Qualitäten im Einzelzeitfahren zugute. Für diese Disziplin hatte Österreich aber für die Sommerspiele keinen Quotenplatz erhalten. „Wenn ich tauschen könnte, wäre mir das Einzelzeitfahren lieber“, hatte Kiesenhofer vor ihrem Start zur APA gemeint.

Auch nach ihrem Triumph für die Geschichtsbücher sagte sie in einer ersten Stellungnahme: „Für Straßenrennen habe ich nicht so den Charakter. Ich werde beim Einzelzeitfahren bleiben. Ich bin einfach froh, dass ich meinem Team die Mühen zurückgeben konnte. Ich bin ja nicht immer einfach, ich habe ja oft spezielle Wünsche“, sagte die Olympiasiegerin, die trotz ihres unglaublichen Goldcoups bescheiden blieb.

Straßenrennen:
1. Anna Kiesenhofer AUT 3:52:45
2. Annemiek van Vleuten NED + 1:15
3. Elisa Longo Borghini ITA 1:29
4. Lotte Kopecky BEL 1:39
5. Marianne Vos NED 1:46
6. Lisa Brennauer GER -"-
7. Coryn Rivera USA -"-
8. Marta Cavalli ITA -"-