Anna Kiesenhofer
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Radsport

Wie Kiesenhofer zur Sensation fuhr

Anna Kiesenhofer ist am Sonntag das Radrennen ihres Lebens gefahren. Nicht bei einer kleineren Rundfahrt wie der Ardeche-Tour, bei der sie ihre zuvor besten Ergebnisse erreicht hatte, sondern bei ihren ersten Olympischen Spielen. In Tokio feierte sie im Straßenrennen gegen die komplett versammelte Weltelite einen Sensationserfolg. Dank perfekter Taktik und als von der Konkurrenz unbeachtete Teilzeitsportlerin feierte die 30-Jährige völlig überraschend einen Solosieg. Dabei verließ sie sich ausschließlich auf sich selbst und überschritt letztlich die Grenzen des Möglichen.

Im Ziel war sie völlig entkräftet. „Ich hatte so unglaubliche Schmerzen und war so glücklich, dass ich es geschafft hatte, weil die letzten 30 Rennkilometer waren ein Kampf gegen mich selbst“, sagte Kiesenhofer im ORF-Interview. Auf den Schlussmetern beim Zieljubel konnte sie auf dem Rad kaum noch das Gleichgewicht halten, so erschöpft war sie. „Ich war völlig fertig und wollte nur mehr auf dem Boden liegen. Noch nie bin ich so ein hartes Straßenrennen gefahren, bei dem ich mich derart verausgabt und geleert habe.“

Nun ist sie Österreichs erste Radsport-Olympiasiegerin seit 1896. Damals siegte Adolf Schmal in Athen im Zwölfstundenrennen auf der Bahn. Dabei war Kiesenhofer in Tokio eigentlich nur angetreten, um zu verlieren. Zu groß schien die Übermacht der Niederländerinnen, die bei Olympia 2012 und 2016 und auch den vergangenen vier WM-Rennen dominiert hatten. Also griff sich die Mathematikerin ein Herz und suchte ihr Heil in der Flucht. Erst als Kiesenhofer und ihre zwei Mitstreiterinnen über zehn Minuten Vorsprung hatten, reagierten die Favoritinnen – zu spät.

Kiesenhofers Husarenritt zu Gold

Nach langer Flucht und letztlich solo eroberte Anna Kiesenhofer in Tokio völlig überraschend die olympische Goldmedaille im Rad-Straßenrennen

„Es gibt Grenzen des Möglichen“

Keine der von den Niederländerinnen angeführten Topfahrerinnen hatte die Einzelkämpferin aus Österreich nach deren Attacke gleich nach dem Start als gefährliche Rivalin eingestuft. Doch die Außenseiterin zog bis ins Ziel durch, hatte 50 Kilometer vor dem Ziel des 137-km-Bewerbs noch fast sechs Minuten Vorsprung, ließ rund zehn Kilometer später auch die letzten zwei der vier Fluchtgefährtinnen hinter sich und vollendete den Coup in großartiger Manier. Die Mathematikerin hatte perfekt kalkuliert. „Ich kann nicht fliegen, bin kein Vogel. Es gibt Grenzen des Möglichen. Aber man kann viel rausholen mit Geduld und Hingabe“, sagte Kiesenhofer später.

Der Triumph Kiesenhofers kam so überraschend, dass nicht einmal die zweitplatzierte Annemiek van Vleuten sie bei der Zieldurchfahrt auf der Rechnung hatte. Die Niederländerin fuhr jubelnd über die Ziellinie, glaubte, gewonnen zu haben. „Das wusste ich nicht. Ich habe mich geirrt“, sagte die 38-Jährige enttäuscht, nachdem sie über Silber aufgeklärt wurde. Vor ihrem Gold-Coup hatte Kiesenhofer nur fünf Siege gefeiert, vier davon bei nationalen Meisterschaften. Seit 2018 ist sie ohne Team. Dass sie eine gute Zeitfahrerin ist, war bekannt. Doch diesen Ritt in der Hitze auf dem Mount Fuji hatte ihr niemand zugetraut.

Mastermind des eigenen Erfolgs

Kiesenhofer macht wie eine Hobbyradlerin alles allein, während die Profifahrerinnen der WorldTour-Teams und Mehrfach-Medaillengewinnerinnen in ihrem Sportleben perfekte Betreuung genießen. Kiesenhofer dagegen plant ihre Karriere mit Training, Ernährung, Material und Renneinteilung selbst. „Ich mache kein Höhentraining und keine großen Trainingslager, ich halte mich an die Grundlagen“, gab die an der Universität Lausanne als Mathematikerin lehrende und forschende Niederösterreicherin preis. „Darauf bin ich stolz. Ich bin selbst das Mastermind hinter meinen Erfolgen.“

Für die fordernden Bedingungen in Tokio hatte sie auch die Hitzeanpassung forciert. „Diese Bedingungen liegen mir ohnehin, aber das hat geholfen. Ich habe unter der Hitze nicht gelitten.“ Sie habe in ihrem Sportlerleben herausgefunden, was das Beste für sie sei, meinte Kiesenhofer. Als gute Einzelzeitfahrerin sei ihr die lange Solofahrt freilich entgegengekommen, im großen Pulk zu fahren, behage ihr nicht so, sagte die Einzelkämpferin, deren Mut zum Risiko belohnt worden war. „Dass Zeitfahren meine Stärke ist, wusste ich. Deshalb war ich an der Spitze selbstbewusst – ich wusste, dass ich gut bergauf und allein bergab fahren und das Rennen durchziehen kann.“

Interview mit Kiesenhofer

Gespräch mit Anna Kiesenhofer, die als Außenseiterin im Straßenrennen sensationell Gold geholt hat.

Verstand als Motor und Bremse

Über ihren Vorsprung sei sie regelmäßig auf Schildern von den Begleitmotorrädern informiert worden (Funk ist bei Olympia nicht erlaubt, Anm.). Die Hoffnung auf Gold wuchs mit jedem absolvierten Kilometer. „Ich will immer gewinnen, selbst bei Olympischen Spielen, obwohl das im Vorfeld unrealistisch war“, sagte sie. „Aber so geht’s allen Sportlern. Der Verstand treibt uns an, obwohl er uns gleichzeitig vermittelt, dass das unmöglich ist.“ Kiesenhofers Vorteil in Tokio: Sie sei von den Favoritinnen unterschätzt worden, auf ihre Attacke hätten sie zu spät reagiert. „Hätte Van Vleuten zu Beginn attackiert, wären ihr gleich fünf andere Nationen im Nacken gesessen. Aber bei mir dachten sie vermutlich: Die kennt man nicht, die ist schlecht.“

Tatsächlich kam Kiesenhofers Start im Olympiastraßenrennen eher überraschend und deshalb zustande, weil Österreich im Zeitfahren keinen Quotenplatz hatte. In einem Selektionsrennen in Tirol musste sie sich in der Folge gegen ihre Mitbewerberinnen behaupten. In Tirol war der Tokio-Kurs simuliert worden. Sportdirektor Chris Peprnicek entschied sich letztlich für Kiesenhofer. Der Erfolg gab ihm Recht.

„Wir haben gewusst, dass sie am Berg sehr stark ist. Wir haben auch gewusst, dass eine Chance in der Gruppe besteht, aber mit Gold hat, glaub ich, keiner gerechnet“, sagte Peprnicek. „Ich bin so stolz auf sie und bin so froh, dass das geklappt, hat.“ Nationaltrainer Klaus Kabasser hob die Qualitäten der Olympiasiegerin hervor. „Sie ist mental extrem stark, sie bereitet sich extrem detailliert und gewissenhaft vor. Wenn sie Ziele hat, dann verfolgt sie diese sehr konsequent.“

Kein Wechsel ins Profigeschäft

In den Profiradsport werde sie auch als Olympiasiegerin eher nicht wechseln, so Kiesenhofer, die 2017 bereits einen Vertrag beim World-Tour-Team Lotto Soudal Ladies erhalten hatte, ihn aber vorzeitig beendete, um wieder in ihren Beruf als Mathematikerin zurückzukehren. „Das Leben als Profi passt nicht zu meinem Charakter. Ich bin eine Einzelkämpferin und plane lieber für mich selbst. Ich habe gerne die Kontrolle. In einem Team muss man Anweisungen von oben erfüllen. Zudem gibt es Stress mit vielen Reisen und Rennen und Übernachtungen in Hotels. So habe ich alles in meiner Hand. Ich suche mir die Rennen aus, die ich fahren will. Ich fahre wenige Rennen und die dafür gut.“

Zugleich warnte Kiesenhofer junge Sportlerinnen davor, uneingeschränkt auf Autoritäten zu vertrauen. „Ich habe gemerkt, dass die, die sagen, sie wissen viel, in Wahrheit nichts wissen.“ Man solle nur wenigen Leuten vertrauen und genau aufpassen, wer das sei. „Diese Zahl ist bei mir sehr begrenzt. Die, denen ich vertraue, stehen mir sehr nahe.“ Ihr Leben wird durch Olympiagold unverändert bleiben. Sie werde weiter ihren Unijob in Lausanne ausüben und die Radkarriere so fortführen wie bisher. „Aber dieser Erfolg gibt mir sehr viel Selbstvertrauen. So gesehen werde ich eine andere Person sein.“