Fanny Blankers Koen (Niederlande) im 80-Meter-Hürdenlauf bei den Olympischen Spielen am 4. April 1948 in London
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Olympia

Die legendäre „Fliegende Hausfrau“

In der Geschichte der Olympischen Spiele haben zahlreiche Leichtathleten herausragende Leistungen gebracht. Jesse Owens, Carl Lewis, Florence Griffith-Joyner und Usain Bolt sind Legenden. Bei den Spielen in London 1948 war es eine zweifache Mutter und Hausfrau, die alle anderen Teilnehmer überstrahlte. Francine „Fanny“ Blankers-Koen holte viermal Gold und wurde zu „The Flying Dutchmam“ – zur „fliegenden Hausfrau“. Am Sonntag wäre die Niederländerin 102 Jahre alt geworden.

Für ihre Leistungen wurde Blankers-Koen vom Internationalen Leichtathletikverband zur Weltleichtathletin des 20. Jahrhunderts gekürt. Gemeinsam mit dem US-Amerikaner Lewis, der in seiner Karriere neunmal Olympisches Gold und einmal Silber geholt hatte, wurde Koen 1999 in Monte Carlo geehrt. „Carl ist so jung und ich so alt“, sagte die damals bereits 81-Jährige. „Ich bin sehr überrascht, dass man sich überhaupt noch an mich erinnert hat.“

Tatsächlich sind die Leistungen von Blankers-Koen in der Gegenwart wohl nur Insidern bekannt, diese waren dafür umso beeindruckender. In ihrer Laufbahn wurde die vierfache Olympiasiegerin auch fünfmal Europameisterin, holte 58 nationale Titel und verbesserte 16-mal Weltrekorde in acht verschiedenen Disziplinen (neben dem Sprint auch im Fünfkampf, Weit- und Hochsprung).

Carl Lewis und die niederländische Athletin Fanny Blankers Koen
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Carl Lewis und Fanny Blankers-Koen bei der Ehrung der Weltleichtathleten des Jahrhunderts in Monte Carlo

Hochzeit, Kinder und dann erst Karrierehöhepunkt

Wegen des Zweiten Weltkriegs erlebte die am 26. April 1918 im niederländischen Lage Vuursche geborene Blankers-Koen ihren Karrierehöhepunkt aber erst als 30-jährige Mutter. Bei ihrem ersten Auftreten bei Olympia, 1936 in Berlin, wurde sie als 18-Jährige im Hochsprung Sechste und Fünfte mit der Sprintstaffel. Bereits ein Jahr zuvor hatte sie über 800 m einen niederländischen Rekord aufgestellt.

Bei diesen Meisterschaften wurde das Multitalent, das erst mit 14 zur Leichtathletik gekommen war, vom Sportjournalisten Jan Blankers entdeckt, der auch ihr Trainer wurde. Aus der Zusammenarbeit wurde Liebe. Es folgten eine Hochzeit mitten in den Kriegswirren und die Geburt zweier Kinder. Einen Babysitter hatte Blankers-Koen nicht, deshalb wurde der Nachwuchs immer ins Stadion mitgenommen, wo sie dreimal die Woche für nur insgesamt vier Stunden trainierte.

Fanny Blankers-Koen beim Training für die Olympischen Spiele in Helsinki 1952, im Hintergrund ihre fünfjährige Tochter
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Die Kinder waren beim Training von Fanny Blankers-Koen immer ein fixer Bestandteil

Eine Hausfrau, die zu Hause bleiben sollte

Bei ihrer Ankunft in London 1948 war Blankers-Koen Weltrekordlerin in sechs verschiedenen Disziplinen. Zu dieser Zeit waren allerdings nur drei Starts in Individualdisziplinen und in der Sprintstaffel erlaubt. Die Niederländerin entschied sich für 100 und 200 m, 80 m Hürden und die 4x100-m-Staffel. Allerdings wurde Blankers-Koen auch kritisch beäugt. Einige meinten, sie wäre mit 30 Jahren schon zu alt, andere meinten, sie sollte zu Hause bei ihren Kindern sein.

Bei ihrem ersten Auftritt auf der Bahn zeigte sie auf einen ihrer Kritiker und erklärte: „Ich werde es Ihnen zeigen.“ Und das tat Blankers-Koen auf beeindruckende Art und Weise. Bei elf Starts innerhalb von acht Tagen musste sich die Niederländerin nicht einmal geschlagen geben. Zuerst gewann Blankers-Koen am 2. August mit olympischem Rekord von 11,9 Sekunden Gold über 100 m. Mit dem Olympiasieg wollte sie abreisen, doch ihr Ehemann überzeugte sie von weiteren Starts.

Fanny Blankers-Koen passiert die Ziellinie bei den Olympischen Spielen in Helsinki im Juli 1952
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An der Dominanz der „Fliegenden Hausfrau“ gab es für die Konkurrenz in London nichts zu rütteln

Historischer Rekordvorsprung über 200 m

Als Nächstes gewann die Niederländerin am 4. August über die Hürden in 11,2 Sekunden nach einem Fotofinish. Am 6. August demütigte Blankers-Koen bei starkem Regen die Konkurrenz über 200 m. Sie gewann in 24,4 Sekunden und mit einem Vorsprung von 0,7 Sekunden, dem größten in der Geschichte der Olympischen Spiele über diese Distanz. Dabei wollte sie wegen Erschöpfung eigentlich gar nicht mehr antreten. Erholung und Ablenkung suchte Blankers-Koen mit Shoppingtouren in London.

Zum Staffelsprint am 7. August kam sie erst zehn Minuten vor dem Start ins Wembley-Stadion, als ihre Teamkolleginnen bereits mit dem Aufwärmen fertig waren. Die Staffel wurde dann aber zum krönenden Abschluss. Die Niederländerinnen lagen bei der letzten Übergabe an Blankers-Koen nur an der vierten Stelle. Die Hausfrau aus den Niederlanden flog förmlich über die Aschenbahn und fing die Australierinnen noch um eine Zehntelsekunde ab.

Vermächtnis mehr als nur Erfolge

Danach kehrte Blankers-Koen als Nationalheldin zurück in ihre Heimat. Ihr zu Ehren wurde eine Statue in Rotterdam errichtet. Von ihren Nachbarn bekam sie ein Fahrrad geschenkt, damit die begnadete Sprinterin abseits der Laufbahn in ihrem privaten Leben „auch einmal etwas langsamer unterwegs“ ist. 1956 beendete Blankers-Koen ihre Karriere. 1982 wurde das Stadion in Hengelo in Fanny-Blankers-Koen-Stadion umbenannt, wo jährlich die Fanny-Blankers-Koen-Spiele veranstaltet werden.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Pflegeheim in Hoofdorp bei Amsterdam, wo sie am 25. Jänner 2004 im Alter von 85 Jahren verstarb. Nach Angaben ihrer Tochter litt sie an Alzheimer. Ihre Leistungen waren mehr wert als nur sportliche Erfolge und Goldmedaillen. Denn auf der größten Sportbühne von allen und zu einer Zeit, als die Welt dringend etwas zum Jubeln brauchte, war der Frauensport in Form einer außergewöhnlich talentierten Sportlerin in den Vordergrund gerückt. Sie selbst sah sich allerdings nie als Vorreiterin des Frauensports.