Läufer mit Nike-Schuhen
AP/The Yomiuri Shimbun
Laufsport

Carbon-Schuhe lassen Rekorde purzeln

Ausgerechnet während der Coronavirus-Pandemie und trotz eines Mangels an Wettkämpfen produzieren die Langstreckenläufer ständig Bestzeiten und lassen weltweit die Rekorde purzeln. Möglich machen das neue Laufschuhe mit Carbonplatten in den dicken Sohlen. Der Leichtathletikweltverband World Athletics hätte die Entwicklung mit Regeländerungen zumindest bremsen können, lässt der Rekordflut aber freien Lauf.

Um die Leistungssprünge einzudämmen, hätte der Verband die erlaubte Sohlendicke bei den Carbon-Schuhen stärker reduzieren müssen. Doch World Athletics winkte ein Modell des US-Herstellers Nike durch – und veranlasste damit auch auch andere Firmen wie adidas und Asics, ähnliche Modelle auf den Markt zu bringen.

Die beschleunigende Wirkung der Schuhe lässt sich an den Bestenlisten ablesen: 2017 liefen vier Männer einen Marathon unter 2:05 Stunden, zwei Jahre später gab es 17 derartige Zeiten. 2016 unterbot lediglich eine Frau über die klassischen 42,195 Kilometer die Marke von 2:20 Stunden, drei Jahre später gab es gleich 13, die das schafften.

Weltweite Rekorde nicht nur im Marathon

Zudem wurden Weltrekorde in allen gängigen Straßenlaufdistanzen verbessert. Inklusive des gelungenen Versuchs des Kenianers Eliud Kipchoge am 12. Oktober 2019 im Wiener Prater, einen Marathon als Erster und bisher einziger unter zwei Stunden zu laufen – allerdings unter nicht weltrekordkonformen Laborbedingungen.

Eliud Kipchoge, 2019
GEPA/Mario Kneisl
Im Oktober 2019 lief Kipchoge im Wiener Prater mit Tempomacherhilfe als erster Mensch einen Marathon unter zwei Stunden

Kipchoge hält seit 2018 mit 2:01:39 auch den offiziellen Marathon-Weltrekord, bei den Frauen unterbot seine kenianische Landsfrau Brigid Kosgei 2019 mit 2:14:04 die mehr als 16 Jahre alte Bestmarke der Britin Paula Radcliffe um mehr als eine Minute. Auch der österreichische Rekord wurde von Peter Herzog im Vorjahr auf 2:10:06 Stunden verbessert, jener der Frauen von Eva Wutti (2:30:43) eingestellt.

Beträchtlicher Zeitgewinn

Der seit Dezember 2020 schnellste Deutsche, Amanal Petros (2:07:18), bestätigt die beschleunigende Wirkung der Schuhe. „Der Abdruck ist jetzt viel intensiver, du springst förmlich. Dadurch ist das gesamte Laufgefühl viel besser“, berichtete der gebürtige Eritreer und schätzt den Unterschied zu herkömmlichen Modellen auf „drei bis vier Sekunden pro Kilometer im Marathon“. Das wären insgesamt rund zweieinhalb Minuten.

Auch andere Athleten geben an, dass die neuen Schuhe für deutliche Leistungssteigerungen sorgen. Der ehemalige deutsche Marathon-Rekordler Arne Gabius glaubt ebenfalls, dass es mit den innovativen Laufschuhen zwei bis drei Sekunden pro Kilometer schneller vorangeht. „Wobei die Schuhe mehr bringen, je länger die Distanz ist, je weniger Kurven es gibt und je flacher die Strecken sind“, erklärte der 30-Jährige.

Kritische Stimmen werden laut

Diese Entwicklung wird aber auch kritisch gesehen. „Als klassischer Leichtathletikfan sehe ich das mit gemischten Gefühlen. Denn die Rekorde großer Athleten bekommen plötzlich den Stellenwert einer Fließbandware“, sagte Mark Milde, Renndirektor des Berlin-Marathons, der auch schon für den Vienna City Marathon (VCM) tätig war. „Wer weiß, was Haile Gebrselassie mit diesem Schuh hätte laufen können.“

Der frühere britische Weltklasseläufer Tim Hutchings fordert sogar: „Diese Schuhe müssen verboten werden.“ Die Technologie habe dazu geführt, dass es derart dramatische Leistungssteigerungen gebe, durch die der Sport beschädigt werde.

Debatte über „eingefrorene“ Bestenlisten

Dass die mit den alten Schuhen erzielten Rekorde und Bestleistungen in einer separaten Liste aber „eingefroren“ werden sollten, hält Gabius für falsch: „Die Entwicklungen sind sicherlich gravierend, aber es ist Technologie im Rahmen der Regeln.“ Anders sieht es die ehemalige deutsche Marathon-Meisterin Katharina Steinruck: „Ich bin sehr dafür, die bisherigen Bestzeiten einzufrieren und zwei Listen zu führen. Wer das beste Material hat, ist vorne – das ist keine gute Entwicklung.“

Im Handel sind die Topmodelle für jedermann um 200 bis 300 Euro zu haben. Da die Carbon-Schuhe aber schon nach rund 200 Kilometern ihre Wirkung verlieren, stellt sich besonders im Nachwuchsbereich eine ganz andere Frage: Gewinnen zukünftig jene Athleten, die es sich leisten können, alle paar Wochen neue Schuhe zu kaufen?