Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in Action
Ralf Dujmovits
Interview

Als es auf dem K2 still wurde

Am 23. August 2011 hat Gerlinde Kaltenbrunner 8.611 Meter über dem Meeresspiegel einen historischen letzten Schritt getätigt. Mit der erfolgreichen Besteigung des K2 wurde die Oberösterreicherin zur ersten Frau, die die 14 höchsten Berge der Erde ohne Flaschensauerstoff erreichen konnte. „Es war nur tiefe Stille und Dankbarkeit“, erinnert sich Kaltenbrunner im Gespräch mit ORF.at an jenen geschichtsträchtigen Moment, in dem sich für die Pionierin vor allem ihr persönlicher Kreis schloss.

Um 18.18 Uhr (Ortszeit) vollendete Kaltenbrunner ihre selbst gewählte Mission, alle 14 Achttausender der Erde zu besteigen. Gemeinsam mit ihren Kollegen Dariusz Zaluski, Maksut Schumajew und Wassili Piwzow gelangte die gelernte Krankenschwester im insgesamt siebenten Anlauf über den Nordpfeiler auf den Gipfel des zweithöchsten Berges der Welt – 13 Jahre nachdem sie mit dem Cho Oyu den ersten Hauptgipfel eines Achttausenders (1994 stand Kaltenbrunner bereits auf dem über 8.000 m hohen Vorgipfel des Broad Peak) bestiegen und fast genau 25 Jahre nachdem Reinhold Messner als erster Mensch ebenfalls alle 14 höchsten Berge erreicht hatte.

Ein Jahr vor Kaltenbrunner waren auch die Südkoreanerin Oh Eun Sun und Edurne Pasaban aus Spanien vor ihr auf allen 14 Achttausendern gestanden. Beide hatten allerdings teilweise auf Flaschensauerstoff zurückgegriffen. Bei Oh ist zudem die Besteigung des Kangchendzönga umstritten. Auch wenn der heute 50-Jährigen der von den Medien forcierte Wettlauf auf gut österreichisch „wurscht“ war („Ich kannte sportlichen Wettkampf aus meiner Jugend und wollte das nicht mehr“), fiel nach der Rückkehr ins Basislager des K2 eine große Last von ihren Schultern: „Es war eine derart große Erleichterung da, auch wenn ich mir vorher immer gesagt habe, ich bau mir keinen Druck auf.“

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner auf der Spitze eines Berges
Archiv Kaltenbrunner/Maxut Zhumayev
Der historische Moment: Kaltenbrunner steht auf dem Gipfel des zweithöchsten Berges der Welt

„Ein großes Geschenk“

Aber nicht den Abstieg, sondern den Anstieg vom letzten Biwaklager auf 8.300 Metern hinauf zum Gipfel geht Kaltenbrunner speziell beim Meditieren noch heute immer wieder durch. „Das ist mir schon ganz stark in Erinnerung, weil es so tiefgreifende Erfahrungen für mich waren. Diese Stille plötzlich zu spüren und nach der ganzen Anstrengung dann endlich oben anzukommen“, so die Oberösterreicherin, „zu sehen, es ist gar nichts mehr offen, es ist alles am richtigen Platz. Diese Einheit zu spüren, lässt sich nur schwer in Worte fassen, aber es sind tiefgreifende Momente, die noch immer ganz präsent sind.“

Wenn man so wie Kaltenbrunner die Augen schließt, wenn sie jenen Moment am Abend des 23. August 2011 als „das Schönste überhaupt“ beschreibt, glaubt man selbst mit auf dem Gipfel zu stehen: „Im Abendlicht auf die umliegenden Achttausender zu schauen, auf denen ich stehen habe dürfen, hat mich sehr berührt. Den Schatten vom K2 auf den umliegenden Bergen zu sehen, die Gletscherzusammenflüsse – es war nichts mehr offen, keine Frage, keine Angst, kein Zweifel, kein Wunsch, es war alles eins. Ich habe es als großes Geschenk gesehen, dort oben stehen zu dürfen.“

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner
Archiv Kaltenbrunner
Zehn Jahre ist es her, dass Kaltenbrunner auch ihren letzten Achttausender erklimmen konnte

Viele Höhen und Tiefen

Das Geschenk als eine von aktuell 44 Bergsteigerinnen und Bergsteigern alle Achttausender vom höchsten, dem Mount Everest, bis zum niedrigsten, dem Shishapangma, vom westlichsten, dem Nanga Parbat, bis zum östlichsten, dem Kangchendzönga, bestiegen zu haben, war allerdings hart erarbeitet. Denn oft genug bekamen Kaltenbrunner und ihre Bergkameraden rund um ihren ehemaligen Mann Ralf Dujmovits die Naturgewalten vor Augen geführt. Mehrmals musste die Oberösterreicherin ihre Anstiege abbrechen. Allein am K2 scheiterte Kaltenbrunner sechsmal.

„Mit jeder Expedition und mit den täglichen Herausforderungen daheim war es ein spannender Prozess. Ich habe von Mal zu Mal mehr verstanden. Auch bei Rückschlägen habe ich – immer im Nachhinein – verstanden, sie waren für etwas gut, und ich kann daraus lernen“, so Kaltenbrunner, „am Anfang habe ich auch gehadert: Warum ist das jetzt passiert? Aber ich habe dann angefangen zu reflektieren, und daran bin ich mehr gewachsen als an den Gipfelerfolgen. Natürlich habe ich mich immer gefreut, wenn ich es geschafft habe, aber weiter gekommen bin ich durch Rückschläge.“

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner
Ralf Dujmovits
Auch von Rückschlägen ließ sich Kaltenbrunner nicht davon abhalten, immer wieder zu den höchsten Bergen zu reisen

Der Tod gehört dazu

Die unmittelbare Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit und dem Tod als ständigem Begleiter war ein wichtiger Teil der laut Kaltenbrunner „Lebensschule“ im Himalaya und Karakorum. So musste sie auf dem K2 mitansehen, wie ihr Kollege und Freund Fredrik Ericsson knapp unterhalb des Gipfels an ihr vorbei in den Tod stürzte. 2007 wurde Kaltenbrunner selbst am Dhaulagiri von einer Lawine verschüttet, konnte sich aber im Gegensatz zu zwei spanischen Kameraden selbst aus den Schneemassen befreien.

„Ich war als Krankenschwester auch sehr oft mit dem Tod konfrontiert und auch in sehr jungen Jahren in der Familie. Daher habe ich mich mit diesem Thema immer wieder auseinandergesetzt. Das hat mir auch geholfen. Es wird gerne verdrängt, so als ob wir ewig leben würden, aber Tod gehört genauso zum Leben“, so Kaltenbrunner. Daher ging sie auch immer mit der Gewissheit, dass jeder Schritt auf dem Berg der letzte sein kann, an ihre Expeditionen heran: „Das Risiko trägt man auch im alltäglichen Leben. Und mit diesem Bewusstsein bin ich gestartet. Wenn es sein will, dann ist es so.“

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in Action
Ralf Dujmovits
Um das beeindruckende Panorama zu erleben, begeben sich Höhenalpinisten in akute Lebensgefahr

Die Gratwanderung zwischen Risiko und Leichtsinn auf über 8.000 Meter Seehöhe sei vor allem durch zwei Hauptfaktoren zu meistern gewesen, so Kaltenbrunner. Essenziell sei die Teamarbeit: „Gemeinsam den Gipfel zu schaffen ist das Tüpferl auf dem i, aber es ist vor allem wichtig, gemeinsam wieder gesund herunterzukommen.“ Dafür müsse alles immer offen ausgesprochen werden, „um sich danach immer in die Augen schauen zu können“. Auch wer ungeduldig Richtung Gipfel drängt, wird im Hochgebirge bestraft. „Das habe ich lernen dürfen. Dazu braucht man auch die absolute Hingabe für ein Ziel und die innerliche und absolute Überzeugung, dass ich es auch wirklich will.“

Jeder Berg hat seine Geschichte

Eine feste Reihenfolge ihrer Gipfelerfolge hat Kaltenbrunner zwar nicht („Jeder Berg hat schöne und abweisende Facetten“), zwei Erlebnisse stechen aber dennoch heraus. „Die herausforderndste Expedition, von der Anspannung her, war die Annapurna. Die Anspannung war permanent, weil immer so viel Eis runtergebrochen ist, speziell nach dem Gipfelgang war uns immer wieder der Weg versperrt“, erinnert sich Kaltenbrunner an ihre Expedition zu jenem Achttausender, dessen Gipfel 1950 als erster von Menschen erklommen wurde.

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in Action
Archiv G. Kaltenbrunner/Ralf Dujmovits
Nur dank eines perfekten Teamworks gelangte die 50-Jährige nicht nur auf die höchsten Berge, sondern auch heil wieder runter

Einen speziellen Platz im Herzen hat aber der K2, nicht nur weil er ihr letzter Gipfel jenseits der 8.000 Meter war. „Ich habe am K2 so stark die Gnade des Berges gespürt, so als hätte er sich gedacht, jetzt nach so viel Anstrengung dürfen sie doch hinauf. Da wurde mir auch bewusst, wie klein der Mensch ist“, so Kaltenbrunner, die damals auch das Kapitel Achttausender auch endgültig abschloss: „Ich hatte viel Glück und Beistand, dass ich da gesund zurückgekommen bin. Es war dann schon ein Prozess des Abnabeln, des Loslassens da.“

Achttausender kein Thema mehr

Bisher widerstand die Oberösterreicherin auch allen Versuchungen, sie wieder in die Höhen jenseits der 8.000 Meter – etwa in die Nordwand des Mount Everest – zu locken: „Ich weiß, dass es besser ist, wenn ich es mit den Achttausender bleiben lasse. Die Berge sind aber natürlich weiter ein Teil von mir. Ich breche nur nicht mehr zu so großen, sondern kleineren Expeditionen auf.“

Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in Action
Ralf Dujmovits
Die mächtige Pyramide des K2 wurde für Kaltenbrunner zum Schlüsselberg ihrer bergsteigerischen Karriere

Lieber lässt sie Zuhörer in Vorträgen und Seminaren an ihren Erlebnissen und Erkenntnissen teilhaben oder zeigt als Yogalehrerin, wie man Körper und Geist ins Gleichgewicht bringt. Trotzdem bleibt Kaltenbrunner nicht nur den Bergen in Fernost, sondern vor allem den Menschen am Fuße der Eisriesen durch diverse Schulprojekte etwa in Nepal verbunden. „Die liegen mir sehr am Herzen“, sagte die Alpinistin, deren Unterstützung für die Projekte durch den Ausfall von Vorträgen in der Coronavirus-Pandemie sehr gelitten hat.

„Es gibt auch einige Berge, wo ich mir denke, da möchte ich rauf, aber wann und ob es was wird, wird man sehen“, sagt Kaltenbrunner, deren Leidenschaft für Fels und Eis noch lange nicht erloschen ist. Stress hat sie dabei allerdings keinen: „Das Leben bringt mir sowieso das, was gut für mich ist.“

Kaltenbrunners 14 Achttausender

1. 6. Mai 1998 Cho Oyu 8.188 m
2. 4. Mai 2001 Makalu 8.485 m
3. 10. Mai 2002 Manaslu 8.163 m
4. 20. Juni 2003 Nanga Parbat 8.125 m
5. 28. Mai 2004 Annapurna 8.091 m
6. 25. Juli 2004 Gasherbrum I ("Hidden Peak") 8.080 m
7. 7. Mai 2005 Shishapangma 8.027 m
8. 21. Juli 2005 Gasherbrum II 8.034 m
9. 14. Mai 2006 Kangchendzönga 8.586 m
10. 12. Juli 2007 Broad Peak 8.051 m
11. 1. Mai 2008 Dhaulagiri 8.167 m
12. 20. Mai 2009 Lhotse 8.516 m
13. 24. Mai 2010 Mount Everest 8.848 m
14. 23. August 2011 K2 8.611 m