Fußball-EM

England erklimmt erstmals den Thron

Das „Sommermärchen“ ist perfekt: England hat die Fußballeuropameisterschaft 2022 im eigenen Land für sich entschieden. Die „Lionesses“ gewannen am Sonntag das Endspiel vor der EM-Rekordkulisse von 87.192 Zuschauerinnen und Zuschauern im Wembley-Stadion gegen Deutschland mit 2:1 nach Verlängerung und holten ihren ersten großen Titel.

Die Entscheidung in einem ausgeglichenen Finale fiel durch „Joker“ Chloe Kelly, die nach einem Eckball im Gestocher abschloss und ihr erst zweites Tor für England erzielte (110.). Bereits zuvor hatte mit Ella Toone eine Einwechselspielerin das 1:0 erzielt (62.). Lina Magull traf zwischenzeitlich zum Ausgleich (79.). Davor hatten sich die beiden Teams vor allem in der ersten Hälfte weitestgehend neutralisiert.

Am Ende jubelte England nach drei Halbfinal-Teilnahmen bei großen Turnieren in Folge über den ersten Triumph im Frauen-Fußball. Für den englischen Fußballverband, dessen Präsident Prinz William die Trophäe an legendärer Stätte überreichte, war es auch erst der zweite Titel im Erwachsenen-Fußball – nach dem gewonnenen Herren-WM-Finale 1966 in Wembley gegen Deutschland. Apropos Männer: Erst vor einem Jahr hatten die Herren ihr EM-Finale gegen Italien an selber Stelle im Elfmeterschießen verloren, das Versäumte holten die Frauen nun nach.

Fußball-EM 2022 Finale: Best of England – Deutschland

England ist zum ersten Mal Europameister. Bei der Heim-EM sichern sich die Engländerinnen in einem ausgeglichenen Finale den Titel mit einem 2:1-Sieg nach Verlängerung über Deutschland.

Nicht zuletzt ihren großen Anteil daran hatte Teamchefin Sarina Wiegman, der ein Kunststück gelang. Die 52-jährige Niederländerin führte vor fünf Jahren ihr eigenes Land zum EM-Titel, nun England. Unter ihrer Führung verlor das Team keines seiner bisher 20 Spiele.

jubelnde Engländerinnen mit EM-Pokal
Reuters/Molly Darlington
„It’s coming home“: Die „Lionesses“ sorgten für Englands ersten großen Fußballtitel seit 1966

Würdiges Finale in Wembley

Dem Turnier hätte kaum etwas Besseres als dieses Finale passieren können. Auf der einen Seite die Gastgeberinnen aus England, auf der anderen Seite die Rekordchampions aus Deutschland – und das in der Fußballkathedrale Wembley-Stadion in London. „Es wird ein großes Fußballfest“, hatte vorab die deutsche Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg zum „Klassiker“ gesagt. Die Deutschen hatten zuvor ihre acht EM-Endspiele für sich entschieden, zuletzt vor neun Jahren.

Innenansicht Wembley Stadion
Reuters/Peter Cziborra
Ein „Klassiker“ als Traumfinale: England gegen Deutschland im Wembley-Stadion

Nach 25 Tagen ging die 13. Europameisterschaft der Frauen würdig und recht zu Ende. Was mit dem Eröffnungsspiel zwischen England und Österreich (1:0) im legendären Old Trafford zu Manchester vor 68.871 Fans begann, endete auch mit einem EM-Rekord punkto Zuschauer und Zuschauerinnen. 87.192 bahnten sich ihren Weg und sorgten wie schon in den dreieinhalb Wochen für prächtige Stimmung im Mutterland des Fußballs. Am Ende kamen 574.875 Menschen in die Stadien, die bisherige Bestmarke von der EM 2017 (240.055) wurde also verdoppelt.

Kurzfristiger Ausfall von DFB-Kapitänin Popp

Sportlich standen auch die eindeutig besten Teams des Turniers im Endspiel, beide kassierten jeweils nur ein Gegentor und kamen auf 20 bzw. 13 Treffer. Bei England war das eher zu erwarten, die „Lionesses“ gingen als Favorit ins Turnier, Deutschland kam nach zuletzt einigen schwierigeren Jahren als gefährlicher Außenseiter. Diese Rolle legten sie allerdings schon beim Auftakt mit dem 4:0 gegen Dänemark ab.

Was die Startaufstellungen betrifft, blieben sich beide Trainerinnen treu, allen voran Wiegman. Die 52-Jährige stellte überhaupt sechsmal dieselbe Elf auf, was es in der EM-Geschichte weder bei Herren noch bei Damen gab. Auch Voss-Tecklenburg hätte nur allzu gerne die gleiche Formation wie beim Halbfinale gegen Frankreich auf das Feld geschickt, doch ausgerechnet Alexandra Popp musste kurzfristig verletzt passen. Die Kapitänin, die wie Beth Mead vor dem Finale sechs EM-Tore zu Buche stehen hatte, musste wegen muskulärer Probleme passen, an ihrer Stelle gab Lea Schüller ihr Startelfcomeback.

Ausgeglichene Anfangsphase

Das Finale, geleitet von der Ukrainerin Kateryna Monsul, begann wie erwartet ausgeglichen. Beide Teams stellten auch ihre Körper gut in die Zweikämpfe, es gab intensive Duelle, beide wollten alsbald zumindest das gefühlte Kommando auf dem Platz haben. Naturgemäß ging kein Team kein großes Risiko, zudem entstand nur selten ein wirklicher Spielfluss, so gab es nicht nur zu Beginn Halbchancen.

White mit der ersten Chance (3. Minute)

Ellen White kommt gleich zur ersten guten Möglichkeit im Spiel. Nach einer Kirby-Flanke bringt sie den Ball nicht platziert genug auf das Tor der Deutschen.

Nach einer Flanke von Fran Kirby kam Ellen White zum Abschluss per Kopf, doch dieser fiel zu harmlos für Torfrau Merle Frohms aus (3.). Auf der anderen Seite traf Sara Däbritz bei ihrem Abschluss im Sechzehner den Kopf von Abwehrspielerin Lucy Bronze (10.). Letztere hatte einige Minuten später wiederum eine Chance, doch auch ihr Kopfball fiel letztlich zu ungefährlich aus (19.). Das war in einer Phase, in der die Engländerinnen das Heft wieder mehr in die Hand genommen hatten.

Zunächst wenige Chancen

Insgesamt blieb es aber eine offene Angelegenheit, zumal die beiden Teams die jeweiligen Waffen auf den Außenpositionen in Schach hielten. „Sie schaffen es, die Stärken auf den Flügeln zu neutralisieren“, urteilte ÖFB-Rekordspielerin und ORF-Expertin Nina Burger. Wie so oft in solchen Situationen entstand dann durch einen Standard eine Chance, im Gewurl hatte aber Torfrau Mary Earps gegen Marina Hegering das bessere Ende. Kapitänin Leah Williamson bekam in dieser unübersichtlichen Situation den Ball auch an den Arm, das wurde vom Video Assistant Referee (VAR) aber nicht als strafbar erachtet.

Earps rettet auf der Linie (25. Minute)

Deutschland wird durch einen Eckball gefährlich. Englands Torhüterin Mary Earps kann den Ball gerade noch vor der Linie unter Kontrolle bringen.

Die ganz großen Chancen blieben in der ersten Hälfte Mangelware, vom Ballbesitz her war die Partie ausgeglichen, und die beiden Defensivreihen zeigten ihre Stärke. Nicht umsonst bekamen sie in jeweils fünf Spielen nur ein Gegentor. Dennoch hätte England mit einer Führung in die Pause gehen können, nach einer Flanke von Mead traf White aber im Sechzehner das Tor nicht (38.). Im letzten Drittel präsentierten sich beide Teams also noch nicht finalwürdig.

Deutschland kommt stark aus Kabine

Nachdem sich beide Teams in der ersten Hälfte mehr oder minder neutralisert hatten, waren die Trainerinnen gefragt. Voss-Tecklenburg wählte den ersten Schachzug und brachte mit Tabea Wassmuth den ersten „Joker“, die für die blasse Jule Brand in die Partie kam. Und das machte sich gleich nach Wiederanpfiff fast bezahlt. Die Wolfsburg-Stürmerin hatte links Platz und zielte aber vor Earps zu unpräzise (48.).

Chance für Magull (50. Minute)

Ein Schuss von Lina Magull zieht knapp am Tor der Engländerinnen vorbei.

Nur zwei Minuten später hatte Deutschland die nächste Chance: Lina Magull bekam rund 13 Meter vor dem Tor das Leder präsentiert und wollte mit dem „Spitz von Wembley“ glänzen, doch das Leder kullerte am Tor vorbei. Wiegman hatte genug gesehen und brachte ihre „Joker“ gleich im Doppelpack ins Spiel. Das waren neben Toone auch Alessia Russio für Kirby und White. Es sollte sich bezahlt machen.

„Joker“ Toone sticht für England

England konnte sich zunächst aus den Fängen der Gegnerinnen befreien und gestaltete die Partie wieder offen. Erst krachten aber noch Hegering und Mead zusammen, was eine mehrminütige Unterbrechung zur Folge hatte. England spielte kurz nur zu zehnt, aber das genügte plötzlich: Keira Walsh hatte in der eigenen Hälfte Raum und Zeit und gab Toone den Laufpass. Die Stürmerin entwischte der deutschen Verteidigung und setzte den gefühlvollen Heber über Frohms (62.). Nun ging der Londoner „Hexenkessel“ beinahe über.

Ella Toone (ENG) trifft zum 1:0
Reuters/Dylan Martinez
„Toone Time“: Die Stürmerin überhob die deutsche Torfrau Merle Frohms zum 1:0

Mead, die wie Popp mit sechs Treffern EM-Torschützin wurde, verließ verletzt das Feld und hoffte, dass ihre Kolleginnen diese Führung über die Zeit bringen würden. Aber Deutschland hatte noch eine Antwort.

Magull erzielt verdienten Ausgleich

Über rechts tankte sich Magull in den Sechzehner und traf wuchtig die Stange (66.). Man erhöhte sukzessive den Druck und kam auch zum verdienten Ausgleich. Über die rechte Seite kombinierten sich die Deutschen wieder durch, Wassmuth bediente am Fünfer Magull, und die Bayern-Spielerin vollendete ins kurze Eck vorbei an Earps (79.).

Magull gleicht zum 1:1 aus (79. Minute)

Nach einigen missglückten Möglichkeiten ist Lina Magull doch noch erfolgreich. Sie trifft zum 1:1 für die Deutschen.

Die restliche reguläre Spielzeit brachte keine große Chance auf beiden Seiten mehr ein, auch für einen „Lucky Punch“ reichte es nicht. Es ging in die Verlängerung, und da kippte die Partie wieder in die Kategorie Sicherheit. Beide Teams näherten sich der Gefahrenzone, aber voerst gab es keine Chancen. Das änderte sich wiederum nach Seitenwechsel.

Kelly hievt „Lionesses“ auf den Thron

Nach 110 Minuten war es dann so weit, und es sollte passend zu den Kräfteverhältnissen ein Standardtor entscheiden. Nach einer Ecke verlängerte Bronze vor das Tor, und Kelly verwertete im zweiten Versuch vorbei an Frohms. Erst wusste sie nicht, ob das Tor zählt, aber dann zog sie ihr Trikot aus und schwang es vor Freude in die Luft (110.), wohl auch weil sie sich vor einem Jahr noch das Kreuzband gerissen und es rechtzeitig noch zurück zur Heim-EM geschafft hatte.

Die zweite Führung ließ sich England nicht mehr nehmen, Deutschland kam nur noch durch Verteidigerin Giulia Gwinn zu einer Chance, der Ball landete aber im Außennetz. Referee Monsul pfiff wenige Minuten später ab, der Jubel kannte keine Grenzen, und es konnte am Ende nur ein Refrain aus den Lautsprechern dröhnen: „Football’s coming home“.

Stimmen zum Spiel:

Sarina Wiegman (England-Teamchefin): „Es ist unglaublich. Die Spielerinnen haben den Sieg unbedingt gewollt und haben jeden Tag daran gearbeitet, sich zu verbessern. Es war ein sehr enges Match, aber wir haben es gewonnen.“

Chloe Kelly (England-Siegtorschützin): „Oh mein Gott, es ist unfassbar. Das sind die Sachen, aus denen Träume gemacht sind. Ich bedanke mich bei allen, die mitgeholfen haben bei meiner Rehabilitation. Ich habe immer daran geglaubt, dass ich hier dabei sein kann, aber dann auch noch den Siegestreffer zu erzielen – einfach nur wow. Ich will einfach nur feiern. Wir sind eine ganz spezielle Truppe.“

Martina Voss-Tecklenburg (Deutschland-Teamchefin): „Es muss ja einen Verlierer geben. Wir waren nah dran nach dem 1:1. Das zweite Tor fällt megaunglücklich. Tore entscheiden die Spiele, und da hat England eins mehr gemacht. Wir haben immer gesagt, wir wollen als Mannschaft agieren, gewinnen oder verlieren. In der Halbzeit haben wir mehr Mut eingefordert. Wir haben alles reingeworfen, jede Spielerin hat alles gegeben. Wir machen jetzt einfach weiter.“

UEFA Women’s Euro 2022, Finale

Sonntag:

England – Deutschland 2:1 n. V. (0:0, 1:1)

London, Wembley-Stadion, 87.192 Zuschauer, SR Monsul (UKR)

Torfolge:
1:0 Toone (62.)
1:1 Magull (79.)
2:1 Kelly (110.)

England: Earps – Bronze, Bright, Williamson, Daly (88./Greenwood) – Stanway (88./Scott), Walsh – Mead (64./Kelly), Kirby (56./Toone), Hemp (119./Parris) – White (56./Russo)

Deutschland: Frohms – Gwinn, Hendrich, Hegering (103./Doorsoun), Rauch (113./Lattwein) – Oberdorf, Däbritz (73./Lohmann) – Huth, Magull (91. Dallmann), Brand (46./Waßmuth) – Schüller (67./Anyomi)

Gelbe Karten: Stanway, White bzw. Rauch, Oberdorf, Schüller