Jubel des iranischen Fußballnationalteams mit Fahne
AP/Vahid Salemi
Chronik

Die Rolle der Sportstars im Iran

Nach dem Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini, die aufgrund angeblicher Verstöße gegen die Kleidungsvorschriften in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen ist, protestieren seit Wochen Tausende gegen das islamische Herrschaftssystem. Den Sportlerinnen und Sportlern des Landes kommt bei den Protesten eine entscheidende Rolle zu. „Sportler können so viel bewirken, ihre Stimme zählt“, sagte etwa der ehemalige Ringer Shoan Vaisi über den Einfluss der Athleten im Iran.

Wenn der seit 2011 in Deutschland lebende Vaisi an seine Heimat denkt, denkt er auch an Teamkollegen, die im Gefängnis sitzen. An Athleten, die seit Protestbeginn von der Religionspolizei bedroht werden. Und an die Mutigen unter ihnen, die „mit der Höchststrafe rechnen“ und trotzdem Teil der Bewegung sind. „Wenn ich Sportler sehe, die sich kritisch äußern, geht mein Herz auf“, wird der frühere Ringer in der dpa zitiert. Vaisi war bis zu seiner Flucht 2011 nach Deutschland Teil des iranischen Nationalteams.

Seit dem Tod von Amini protestieren im Iran trotz aller Eindämmungs- und Einschüchterungsversuche vonseiten der Regierung Tausende gegen den repressiven Kurs und das islamische Herrschaftssystem. Die Religionspolizei hatte die 22-Jährige seinerzeit festgenommen, weil sie gegen die Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll. Amini starb am 16. September in Polizeigewahrsam. Wut und Sehnsucht nach Veränderung treiben die Menschen auf die Straßen.

Proteste mit brennenden Barrikaden in der iranischen Hauptstadt Teheran
AP
Seit dem Tod der jungen Frau herrscht vor allem in der iranischen Hauptstadt Teheran Ausnahmezustand

Unter ihnen sind viele Sportler. Ihre Solidarität sei „beispiellos“, sagte der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad. Es ist der Mut seiner ehemaligen Kollegen, der Vaisi Hoffnung macht. „Sie haben jahrelang für iranische Mannschaften gespielt, jahrelang iranische Familien glücklich gemacht.“ Der heutige Politiker der Linken glaubt, dass Sportler zu „Vorreitern der Revolution“ werden können: „Zusammen mit der Jugend sind sie so was wie Oppositionsführer.“

Großer Einfluss auf Jugend

Sportler genießen im Iran ein extrem hohes Ansehen. Millionen Follower in den sozialen Netzwerken machen vor allem Fußballer und Kampfsportler, wie etwa die international erfolgreichen Ringer, zu Meinungsführern. Ihr Einfluss besonders auf die junge Generation ist daher enorm. Und die junge Generation bildet im ehemaligen Persien einen großen Gesellschaftsanteil. Altersstatistiken zufolge ist jeder dritte Iraner jünger als 24 Jahre.

Die politische Führung weiß daher auch um den Stellenwert der Sportler innerhalb der iranischen Gesellschaft – und unterdrückt kritische Stimmen mit allen Mitteln. „Die hochrangigen Funktionäre der Verbände sind natürlich Leute, die nicht zufällig dort sind. Kriterium bei solchen Posten ist auch nicht die Qualifikation, sondern wie bei ähnlichen Positionen die Loyalität zum Regime“, so Fathollah-Nejad.

Dass sich Nationalspieler vor der Fußball-WM mit Kritik zurückhalten, wundert den Experten nicht. Die Angst, aus dem Kader gestrichen zu werden, ist groß. „Es gibt keine Limits. Da werden Familienangehörige unter Druck gesetzt oder mit der Konfiszierung von Eigentum gedroht. Natürlich ist auch die Karriere von Sportlern bedroht. Bis hin zu strafrechtlichen Maßnahmen“, sagte Fathollah-Nejad.

Ausschlussforderung statt WM-Euphorie

Die Fußballendrunde, die am 20. November in Katar beginnt, ist für das sportverrückte Land ein absolutes Highlight. Schon die Qualifikation wurde wie ein Titel gefeiert. Den Gruppenspielen gegen England, Wales und Katar fiebern die Iraner bereits seit Monaten entgegen. Nun stellen die Proteste den Fußball aber in den Schatten.

Mehr noch: Viele fordern den Ausschluss des „Team-Melli“, um die Islamische Republik zu strafen. „Wie soll man an Fußball denken, wenn unser Volk dermaßen leidet?“, fragte der ehemalige Nationalspieler und Trainer von Persepolis Teheran, Jahia Golmohammadi. Andere sehen die internationale Aufmerksamkeit während der WM als Chance. „Weil Spieler auf der Weltbühne sind und dort auch Solidarität zeigen können. Das könnte die Protestierenden sogar mehr ermutigen, als wenn der Iran disqualifiziert wird“, so Fathollah-Nejad.

Sportler unter ständiger Kontrolle

Dass Sport im Iran durch und durch politisiert ist, weiß der frühere Ringer Vaisi aus eigener Erfahrung. „Regierungsvertreter und Kleriker begleiteten uns auf den Lehrgängen. Wir wurden gezwungen zu beten. Uns wurde gesagt, wie wir uns zu verhalten haben“, erinnerte sich der 32-Jährige. Er kann verstehen, dass sich aktive Athleten mit Kritik zurückhalten. „Für viele ist Profisport der einzige Weg aus der Armut. Und wer Kritik übt, hat keine sportliche Perspektive mehr“, sagte Vaisi.

Viele ehemalige Fußballstars äußern sich dagegen öffentlich – und nehmen Konsequenzen in Kauf. Wegen seiner Kritik am System droht etwa dem früheren Bayern-Spieler Ali Karimi eine Verhaftung. Dem iranischen Ehrenkapitän Ali Daei soll der Pass abgenommen worden sein. Auch Mehdi Mahdavikia, der lange Zeit beim deutschen Traditionsclub Hamburger SV zum Stammpersonal gehörte, kritisierte Irans Führung und trat als Cheftrainer der iranischen U-21-Nationalmannschaft zurück.

Ali Daei im Jahr 2006 als iranischer Nationalteamspieler
Reuters/Morteza Nikoubazl
Ali Daei, der 109 Tore für sein Land erzielte, steht auf der Verhaftungsliste des iranischen Regimes

Kletterin wird zu Ikone

Die mutigen Fußballer sind für viele im Land zu Nationalhelden geworden. So wie erst vor Kurzem auch Sportkletterin Elnaz Rekabi. Die Sportlerin trat im Finale der Asienmeisterschaften in Südkorea ohne das für die iranischen Sportlerinnen obligatorische Kopftuch an. Über Nacht wurde sie weltberühmt und zur Galionsfigur der Frauenbewegung.

Vaisi hatte sich vor seiner Flucht ebenfalls für ein offeneres, freieres Iran eingesetzt. „Ich war politisch im Untergrund aktiv. Irgendwann wurden meine Freunde verhaftet, und ich bin schnell geflohen.“ Wann er seine Eltern und Geschwister wiedersieht, die immer noch im Iran leben? Das weiß er nicht. „Ich kann nicht zurück. Sonst werde ich festgenommen und im schlimmsten Fall hingerichtet.“ Aufgeben will er aber nicht – genauso wenig wie viele mutige Menschen, die im Iran um ihre Freiheit kämpfen.