Dem britischen Hang zu Spitznamen ist es zu verdanken, dass bereits das erste Spiel im ursprünglich Empire Stadium genannten Stadion unter der prägnanten Bezeichnung „White Horse Final“ in die Annalen eingehen sollte. Errichtet für die ein Jahr später stattfindende Kolonialausstellung „British Empire Exhibition“ sollte das FA-Cup-Finale zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United am 28. April 1923 den gebührenden Rahmen für die Einweihung der neuen Arena bieten.
Der Vorverkauf für das Spiel verlief zunächst schleppend. Um sich vor König George V., der den Pokal überreichen sollte, keine Blöße zu geben, wurde für das Endspiel noch einmal kräftig die Werbetrommel gerührt, mit ungeahnten Folgen. Statt der für die Arena zugelassenen 120.000 Zuschauer pilgerten geschätzte 300.000 Fans nach Wembley, ein Andrang, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Veranstalter zogen die Reißleine und schlossen die Zugänge zum Stadion, viele Menschen kletterten deshalb über die Absperrungen und sorgten so für ein veritables Chaos.
Tausende Zuschauer strömten auf das Spielfeld und sahen sich dort zunächst einer Schar überforderter Sicherheitskräfte gegenüber. Nur mit Mühe bekamen diese die Situation in den Griff. Auf Schwarz-Weiß-Bildern scheint sich ein einzelner Polizist auf einem weißen Pferd den Massen ikonenhaft entgegenzustellen, er verlieh dem Spiel so seinen Namen. Dass der Hengst Billy eigentlich ein graues Fell hatte und sich nur aufgrund seiner Farbe von den anderen Polizeipferden abhob, ist der Legendenbildung geschuldet. Die Partie konnte schließlich mit erheblicher Verspätung angepfiffen werden und endete mit einem 2:0-Sieg der Wanderers.
Von der Hunderennbahn zur „Kathedrale“
Nach dem Ende der Kolonialausstellung hing die Zukunft des Stadions zunächst an einem seidenen Faden. Eigentlich sollte es 1925 abgerissen werden, der Geschäftsmann Arthur Elvin witterte jedoch seine Chance, kaufte die Arena dem damaligen Besitzer Jimmy White ab und hatte damit als Wettkampfstätte für die damals beliebten Windhunderennen großen Erfolg. Trotz einiger wirtschaftlicher Turbulenzen – so musste er nach dem Tod von White, mit dem er eine Ratenzahlung vereinbart hatte, praktisch über Nacht den gesamten Restbetrag begleichen – war der Erfolg des Stadions nicht mehr aufzuhalten.
Die Arena, die wegen der beiden markanten Doppeltürme auch den Spitznamen „The Twin Towers“ (Zwillingstürme, Anm.) erhielt, hatte sich in kürzester Zeit einen Namen als glanzvoller Rahmen für sowohl sportliche als auch kulturelle Veranstaltungen gemacht. Neben dem FA-Cup-Finale, das seit 1923 immer im Wembley über die Bühne geht, avancierte das Stadion im „Mutterland des Fußballs“ unter anderem auch zur Heimstätte der englischen Fußballnationalmannschaft. Nicht von ungefähr bezeichnete Brasiliens Ikone Pele das Wembley-Stadion einst als „Kathedrale“, „Hauptstadt“ und „Herz“ des Fußballs.
„Wembley-Toni“ schießt sich in Geschichtsbücher
Neben dem ersten Heimspiel im Wembley am 12. April 1924 gegen Schottland (1:1) und dem 3:6 am 25. November 1953 gegen Ungarn, der ersten Heimpleite gegen ein nicht britisches Team, bleibt vor allem ein Ereignis für immer mit dem Stadion im Londoner Stadtbezirk Brent untrennbar verbunden: das WM-Endspiel am 30. Juli 1966 gegen Deutschland (4:2 n. V.), in dem Geoff Hurst die „Three Lions“ in der Verlängerung mit dem legendären und bis heute umstrittenen „Wembley-Tor“ 3:2 in Führung schoss und so England den Weg zum bisher einzigen Weltmeistertitel ebnete.
Österreich wurde bisher sechsmal die Ehre zuteil, im Wembley-Stadion zu spielen, zuletzt im EM-Achtelfinale Ende Juni 2021 bei der 1:2-Niederlage nach Verlängerung gegen Italien, das sich zwei Wochen später ebendort gegen England im Elfmeterschießen die EM-Krone aufsetzte. Gegen die „Three Lions“ wurden von insgesamt 19 Partien sechs Duelle im Wembley ausgetragen. Unvergessen bleibt der 20. Oktober 1965, an dem Toni Fritsch das ÖFB-Team bei seinem Länderspieldebüt mit zwei Treffern zu einem sensationellen 3:2-Erfolg führte und sich so als „Wembley-Toni“ in die Geschichtsbücher eintrug.
Die Zeit war jedoch nicht spurlos am Wembley-Stadion vorbeigegangen. 1963 erfolgte die erste umfangreiche Renovierung. Im Oktober 2000 fiel schließlich der Vorhang für die in die Jahre gekommene Arena, im letzten Spiel im alten Wembley setzte es für England dabei noch eine bittere 0:1-Niederlage gegen Deutschland. Der Abbruch erfolgte aufgrund finanzieller und politischer Schwierigkeiten erst drei Jahre später. Im März 2007 wurde dann an gleicher Stelle das neue und doppelt so große Wembley-Stadion fertiggestellt, das 90.000 Zuschauerinnen und Zuschauern Platz bietet.
Mehr als nur ein Fußballtempel
Das alte und auch das neue Wembley-Stadion standen in den letzten 100 Jahren aber nicht nur bei Fußballspielen im Mittelpunkt. Neben den Windhunderennen, die der Arena zu Beginn das wirtschaftliche Überleben sicherten, fanden auch Rugby- und Baseballspiele statt. Bei den Olympischen Spielen 1948 war das Stadion nicht nur Wettkampfstätte unter anderem für die Leichtathleten, sondern Dreh- und Angelpunkt der Spiele. Auch Boxkämpfe und Speedway-Rennen gingen im Wembley über die Bühne. Seit 2007 ist es auch ein fester Bestandteil der Europa-Gastspiele der National Football League (NFL).
Das erste Musikkonzert im Wembley bestritt die englische Band Yes im Jahr 1969. Danach folgten unzählige weitere Auftritte zahlreicher Topstars. 1985 fand im Wembley das Benefizkonzert „Live Aid“ für die Afrika-Hungerhilfe statt. In London und in Philadelphia spielten damals zahlreiche internationale Musikgrößen in knapp 16 Stunden eine Spendensumme von rund 100 Millionen Euro ein. In London traten unter anderen Queen, die Dire Straits, Elton John, David Bowie, The Who und U2 auf. 1988 veranstaltete man zudem anlässlich seines 70. Geburtstages ein Benefizkonzert für den damals noch inhaftierten späteren Südafrika-Präsidenten Nelson Mandela.
Auch wenn Nostalgiker noch immer den beiden trotz aller Proteste abgerissenen Zwillingstürmen, die übrigens von einem Kran mit dem Spitznamen „Alan the Shearer“ demoliert wurden, nachweinen, hat auch das neue Wembley-Stadion mit dem markanten 133 Meter hohen Bogen längst seinen Platz nicht nur in den Herzen der englischen Fans gefunden. Der Besucherrekord, der vor 100 Jahren gleich in der ersten Partie aufgestellt wurde und offiziell bei 126.047 Zuschauern liegt, weil eben so viele Tickets verkauft wurden, wird allerdings wohl ewig unerreicht bleiben.