Luftansicht des Wembley Stadium in London
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Chronik

Mythos Wembley feiert 100. Geburtstag

Schon das Eröffnungsspiel hat Legendenstatus erreicht, auch danach schrieb die Arena gleich mehrmals Geschichte. Am Freitag vor genau 100 Jahren wurde mit dem sagenumwobenen „White Horse Final“ das Wembley-Stadion eröffnet. Dass sich der Fußballtempel im Westen Londons in den darauffolgenden zehn Jahrzehnten auch abseits des Sports zum englischen Nationalheiligtum entwickelte, verdankt er gleich mehreren historischen Ereignissen.

Dem britischen Hang zu Spitznamen ist es zu verdanken, dass bereits das erste Spiel im ursprünglich Empire Stadium genannten Stadion unter der prägnanten Bezeichnung „White Horse Final“ in die Annalen eingehen sollte. Errichtet für die ein Jahr später stattfindende Kolonialausstellung „British Empire Exhibition“ sollte das FA-Cup-Finale zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United am 28. April 1923 den gebührenden Rahmen für die Einweihung der neuen Arena bieten.

Der Vorverkauf für das Spiel verlief zunächst schleppend. Um sich vor König George V., der den Pokal überreichen sollte, keine Blöße zu geben, wurde für das Endspiel noch einmal kräftig die Werbetrommel gerührt, mit ungeahnten Folgen. Statt der für die Arena zugelassenen 120.000 Zuschauer pilgerten geschätzte 300.000 Fans nach Wembley, ein Andrang, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Veranstalter zogen die Reißleine und schlossen die Zugänge zum Stadion, viele Menschen kletterten deshalb über die Absperrungen und sorgten so für ein veritables Chaos.

Tausende Menschen und ein weißes Pferd während des „White Horse Final“ im Wembley Stadium in London 1923
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Ein Reiter auf einem weißen Pferd behielt beim Eröffnungsspiel scheinbar auf sich allein gestellt den Überblick

Tausende Zuschauer strömten auf das Spielfeld und sahen sich dort zunächst einer Schar überforderter Sicherheitskräfte gegenüber. Nur mit Mühe bekamen diese die Situation in den Griff. Auf Schwarz-Weiß-Bildern scheint sich ein einzelner Polizist auf einem weißen Pferd den Massen ikonenhaft entgegenzustellen, er verlieh dem Spiel so seinen Namen. Dass der Hengst Billy eigentlich ein graues Fell hatte und sich nur aufgrund seiner Farbe von den anderen Polizeipferden abhob, ist der Legendenbildung geschuldet. Die Partie konnte schließlich mit erheblicher Verspätung angepfiffen werden und endete mit einem 2:0-Sieg der Wanderers.

Von der Hunderennbahn zur „Kathedrale“

Nach dem Ende der Kolonialausstellung hing die Zukunft des Stadions zunächst an einem seidenen Faden. Eigentlich sollte es 1925 abgerissen werden, der Geschäftsmann Arthur Elvin witterte jedoch seine Chance, kaufte die Arena dem damaligen Besitzer Jimmy White ab und hatte damit als Wettkampfstätte für die damals beliebten Windhunderennen großen Erfolg. Trotz einiger wirtschaftlicher Turbulenzen – so musste er nach dem Tod von White, mit dem er eine Ratenzahlung vereinbart hatte, praktisch über Nacht den gesamten Restbetrag begleichen – war der Erfolg des Stadions nicht mehr aufzuhalten.

Fotostrecke mit 12 Bildern

Luftansicht des Wembley Stadium, London 1923
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Bei der Eröffnung platzt das Stadion 1923 aus allen Nähten, rund 300.000 Menschen sollen gekommen sein
Fackelläufer John Mark während der Eröffnung der Olympische Spiele 1948 im Wembley Stadium, London
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Bei den Olympischen Sommerspielen 1948 bildete das Wembley-Stadion den Dreh- und Angelpunkt
Geoff Hurst (England) erzielt bei der WM 1966 gegen Deutschland das umstrittene 3:1 im Wembley Stadium, London
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Geoff Hurst erzielte im WM-Finale 1966 gegen Deutschland das umstrittene „Wembley-Tor“ zur 3:2-Führung
Anton Fritsch erzielt im Freundschaftsspiel England-Österreich 1965 im Wembley Stadium, London ein Tor
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Anton „Wembley-Toni“ Fritsch schoss das ÖFB-Team 1965 in einem Testspiel mit einem Doppelpack zum Sieg
Fans jubeln während des Auftritts von „Queen“-Sänger Freddie Mercury 1985 im Wembley Stadium, London
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Einer der Höhepunkte beim „Live Aid“-Konzert 1985 war der Auftritt der britischen Kultband Queen
Speedway-Testrennen 1937 im Wembley Stadium, London
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Im Wembley-Stadion fanden zwischen 1936 und 1981 auch zahlreiche Speedway-Rennen statt
Skispringen 1961 im Wembley Stadium, London
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1961 wurde im Londoner Wembley-Stadion sogar eine mächtige Holzsprungschanze aufgebaut
Cassius Clay (Muhammed Ali) 1963 im Wembley Stadium, London
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Muhammed Ali schickte 1963 den Briten Henry Cooper im Wembley-Stadion nach fünf Runden auf die Bretter
Irland-Rumänien während des Rugby World Cup 2015 im Wembley Stadium, London
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Bei der Rugby-WM 2015 war das Wembley-Stadion auch Schauplatz, hier beim Duell Irland gegen Rumänien
NFL International Series Denver Broncos gegen Jacksonville Jaguars 2022 im Wembley Stadium, London
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Seit 2007 gastiert auch die NFL im Wembley, wie etwa 2022 die Denver Broncos und die Jacksonville Jaguars
Race of Champions 2008 im Wembley Stadium, London
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Auch Motorsportliebhaber kommen auf ihre Kosten, wie 2008 bei der Rennserie „Race of Champions“
Marko Arnautovic erzielt im EM-2020-Spiel im Wembley Stadium, London gegen Italien ein später aberkanntes Tor
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Marko Arnautovic köpfelte 2021 im EM-Achtelfinale gegen Italien das vermeintliche 1:0 für Österreich

Die Arena, die wegen der beiden markanten Doppeltürme auch den Spitznamen „The Twin Towers“ (Zwillingstürme, Anm.) erhielt, hatte sich in kürzester Zeit einen Namen als glanzvoller Rahmen für sowohl sportliche als auch kulturelle Veranstaltungen gemacht. Neben dem FA-Cup-Finale, das seit 1923 immer im Wembley über die Bühne geht, avancierte das Stadion im „Mutterland des Fußballs“ unter anderem auch zur Heimstätte der englischen Fußballnationalmannschaft. Nicht von ungefähr bezeichnete Brasiliens Ikone Pele das Wembley-Stadion einst als „Kathedrale“, „Hauptstadt“ und „Herz“ des Fußballs.

„Wembley-Toni“ schießt sich in Geschichtsbücher

Neben dem ersten Heimspiel im Wembley am 12. April 1924 gegen Schottland (1:1) und dem 3:6 am 25. November 1953 gegen Ungarn, der ersten Heimpleite gegen ein nicht britisches Team, bleibt vor allem ein Ereignis für immer mit dem Stadion im Londoner Stadtbezirk Brent untrennbar verbunden: das WM-Endspiel am 30. Juli 1966 gegen Deutschland (4:2 n. V.), in dem Geoff Hurst die „Three Lions“ in der Verlängerung mit dem legendären und bis heute umstrittenen „Wembley-Tor“ 3:2 in Führung schoss und so England den Weg zum bisher einzigen Weltmeistertitel ebnete.

Österreich wurde bisher sechsmal die Ehre zuteil, im Wembley-Stadion zu spielen, zuletzt im EM-Achtelfinale Ende Juni 2021 bei der 1:2-Niederlage nach Verlängerung gegen Italien, das sich zwei Wochen später ebendort gegen England im Elfmeterschießen die EM-Krone aufsetzte. Gegen die „Three Lions“ wurden von insgesamt 19 Partien sechs Duelle im Wembley ausgetragen. Unvergessen bleibt der 20. Oktober 1965, an dem Toni Fritsch das ÖFB-Team bei seinem Länderspieldebüt mit zwei Treffern zu einem sensationellen 3:2-Erfolg führte und sich so als „Wembley-Toni“ in die Geschichtsbücher eintrug.

Die Zeit war jedoch nicht spurlos am Wembley-Stadion vorbeigegangen. 1963 erfolgte die erste umfangreiche Renovierung. Im Oktober 2000 fiel schließlich der Vorhang für die in die Jahre gekommene Arena, im letzten Spiel im alten Wembley setzte es für England dabei noch eine bittere 0:1-Niederlage gegen Deutschland. Der Abbruch erfolgte aufgrund finanzieller und politischer Schwierigkeiten erst drei Jahre später. Im März 2007 wurde dann an gleicher Stelle das neue und doppelt so große Wembley-Stadion fertiggestellt, das 90.000 Zuschauerinnen und Zuschauern Platz bietet.

Mehr als nur ein Fußballtempel

Das alte und auch das neue Wembley-Stadion standen in den letzten 100 Jahren aber nicht nur bei Fußballspielen im Mittelpunkt. Neben den Windhunderennen, die der Arena zu Beginn das wirtschaftliche Überleben sicherten, fanden auch Rugby- und Baseballspiele statt. Bei den Olympischen Spielen 1948 war das Stadion nicht nur Wettkampfstätte unter anderem für die Leichtathleten, sondern Dreh- und Angelpunkt der Spiele. Auch Boxkämpfe und Speedway-Rennen gingen im Wembley über die Bühne. Seit 2007 ist es auch ein fester Bestandteil der Europa-Gastspiele der National Football League (NFL).

Innenansicht des Wembley Stadium in London
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Mit 90.000 Plätzen ist das neue Wembley hinter dem Camp Nou (99.354) in Barcelona das zweitgrößte Stadion Europas

Das erste Musikkonzert im Wembley bestritt die englische Band Yes im Jahr 1969. Danach folgten unzählige weitere Auftritte zahlreicher Topstars. 1985 fand im Wembley das Benefizkonzert „Live Aid“ für die Afrika-Hungerhilfe statt. In London und in Philadelphia spielten damals zahlreiche internationale Musikgrößen in knapp 16 Stunden eine Spendensumme von rund 100 Millionen Euro ein. In London traten unter anderen Queen, die Dire Straits, Elton John, David Bowie, The Who und U2 auf. 1988 veranstaltete man zudem anlässlich seines 70. Geburtstages ein Benefizkonzert für den damals noch inhaftierten späteren Südafrika-Präsidenten Nelson Mandela.

Auch wenn Nostalgiker noch immer den beiden trotz aller Proteste abgerissenen Zwillingstürmen, die übrigens von einem Kran mit dem Spitznamen „Alan the Shearer“ demoliert wurden, nachweinen, hat auch das neue Wembley-Stadion mit dem markanten 133 Meter hohen Bogen längst seinen Platz nicht nur in den Herzen der englischen Fans gefunden. Der Besucherrekord, der vor 100 Jahren gleich in der ersten Partie aufgestellt wurde und offiziell bei 126.047 Zuschauern liegt, weil eben so viele Tickets verkauft wurden, wird allerdings wohl ewig unerreicht bleiben.