Ausschnitt aus der ORF-Sendung „Land der Berge“ 1983 zeigt einen Bergsteiger
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Chronik

Als Grenzgänger Buhl den „Nanga“ besiegte

Vor 70 Jahren wurde Hermann Buhl auf 8.126 Meter Seehöhe zur Legende. Der Tiroler Bergführer stand als erster Mensch auf dem Gipfel des sagenumwobenen Nanga Parbat. Für seinen legitimen Nachfolger Reinhold Messner ist Buhls legendärer Alleingang im Gespräch mit ORF.at nicht nur die schönste aller Geschichten: „Sie wird aus bergsteigerischer Sicht auch immer wichtiger bleiben als die des Everest.“

Wenige Wochen nachdem der Neuseeländer Edmund Hillary und der nepalesische Sherpa Tensing Norgay als Erste den Gipfel des Mount Everest erreicht hatten, schrieb Buhl auf dem Nanga Parbat ein weiteres Stück Bergsteigergeschichte. Am 3. Juli 1953 gegen 19.00 Uhr Ortszeit pflanzte der damals 28-Jährige seinen Pickel zuerst für ein Foto mit einem Tiroler Wimpel auf den Gipfel des neunthöchsten Berges der Welt und ließ das Gerät und eine pakistanische Flagge als Beweis zurück. Als bisher einziger Bergsteiger wurde Buhl deshalb auch zum österreichischen Sportler des Jahres gewählt.

Der Gipfelsieg auf dem übersetzt „Nackten Berg“ war das Resultat eines beispiellosen Alleinganges: Buhl machte sich von Lager fünf auf 6.900 Meter Höhe alleine auf den Weg und kämpfte sich mit eiserner Willenskraft und aufgeputscht durch die Droge Pervitin an die Spitze. Mehr noch: Der Tiroler überstand beim Abstieg im Stehen eine Nacht in der Todeszone in 8.000 Meter Höhe, ehe er 41 Stunden nach seinem Aufbruch dehydriert und halluzinierend ins oberste Lager wankte. Eine Szene, die der auf Buhl wartende Kameramann Hans Ertl auf Film festhalten konnte.

Portrait Hermann Buhl, undatiert
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Gezeichneter Held: Buhl beim Abstieg vom Nanga Parbat

Aufgrund dieser Umstände stehe die Erstbesteigung des Nanga Parbat auch über jener des Mount Everest, so Messner: „Weil Buhl alleine war, er eine sehr lange Wegstrecke zurückgelegt hat und vor dem Gipfel auch noch eine sehr schwierige Kletterpassage bewältigen musste. Ich traue jedem heutigen Spitzenbergsteiger zu, die Route von Buhl zu wiederholen. Aber ich bin überzeugt, mit den gleichen Bedingungen, wie sie Buhl am 3. Juli 1953 vorgefunden hat, hätte keiner von ihnen heute eine Chance. Gerade was die Kondition angeht, könnte sich Buhl heute noch mit allen messen.“

„Begeisterung und Besessenheit“

Für Messner war und ist der 1924 in Innsbruck geborene und nach dem frühen Tod der Mutter bei Verwandten aufgewachsene Buhl mehr als nur sein bergsteigerisches Vorbild: „Buhl war ein Spitzenalpinist. Er gehörte in den Jahren von 1948 bis 1957 zur absoluten Weltspitze, als Kletterer, als traditioneller Alpenbergsteiger und als Eroberer der großen Berge.“ Buhl sei nicht nur durch Ehrgeiz getrieben gewesen, sondern auch durch „seine Begeisterung und Besessenheit, die durch sein Können gewachsen ist. Durch diese Begeisterung hat er sich immer wieder an die Grenze des absolut Möglichen herangetastet.“

Dabei sei Buhls Zugang zu Fels und Eis, egal ob im heimischen Karwendel, in den Westalpen oder im Himalaya nüchtern gewesen. „Er war nicht von Romantik geprägt, er war in seinen Aussagen sachlich klar. Er hat nichts verklärt, sondern auch die Gefahr gesehen“, erklärt Messner, der seinem Vorbild auch in seinen Büchern immer wieder Respekt zollt. Vor allem vor dessen „Kreativität und Fähigkeit, zu sich selbst hart zu sein“ habe er immer große Hochachtung gehabt, so der 78-Jährige. Auf dem Broad Peak ging Messner später den Weg der Erstbesteiger als Hommage an Buhl nach.

Grafik zeigt die Route der Erstbesteigung des Nanga Parbat durch Hermann Buhl 1953
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Das lange Stück von Lager fünf hinauf zum Gipfel und zurück absolvierte Buhl in einem Gewaltmarsch über 41 Stunden

Die Bedeutung Buhls für den Alpinismus sei laut Messner kaum in Worte zu fassen. Neben Kurt Diemberger ist der Tiroler der einzige Nicht-Sherpa, der gleich zwei Achttausender erstbestiegen hat. Vier Jahre nach dem Nanga Parbat eroberte Buhl gemeinsam mit Fritz Wintersteller, Marcus Schmuck und Diemberger, der später auch als Erster auf dem Dhaulagiri stand, den Broad Peak. „Zwei Achttausender erstbestiegen zu haben, ist viel wichtiger, als als Hundertster irgendwo hinaufzusteigen“, so Messner, der als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern in seiner von Grenzgängen geprägten Karriere ebenfalls Bergsteigergeschichte geschrieben hat.

Perfektes Märchen trotz Widerstands

Was Buhls Alleingang so besonders macht, ist laut Messner die Besteigungsgeschichte des westlichsten aller 14 Achttausender. Schon 1895 verschwand der englische Alpinpionier Albert F. Mummery beim Versuch, den Nanga Parbat zu bezwingen. In den 1930er Jahren endeten schließlich mehrere deutsche Expeditionen in Katastrophen. Vor allem jene von 1934, als neben dem Expeditionsleiter Willy Merkl auch der von Messner in einem Buch zum „Eispapst“ geadelte Wilo Welzenbach und acht weitere Personen im Schneesturm ums Leben kamen. Die NS-Propaganda rief den Nanga Parbat daraufhin zum „Schicksalsberg der Deutschen“ aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte der Münchner Arzt Karl Herligkoffer 1953 dann eine Expedition auf die Beine, um den „Nanga“ im Namen seines Halbbruders Merkl doch noch zu erobern. Buhl erhielt dadurch seine große Chance und nutzte diese – auch weil er sich den Befehlen Herligkoffers, der die Expedition vom Basislager aus leitete, widersetzte. „Er hat nach der Expedition lange mit Herligkoffer auch vor Gericht gestritten, weil dieser ihm ja den Gipfelgang verboten hatte. Buhl hätte ins Basislager absteigen sollen“, erzählt Messner.

Lager der Nanga-Parbat-Expedition 1953
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Das Basislager der Expedition von 1953 mit dem Gipfel des Nanga Parbat (Mitte am obersten Bildrand) vor Augen

Der damals 28-Jährige wagte – unterstützt von seinem Kollegen Otto Kempter, der ihm am Gipfeltag eine Zeit lang folgte, und Kameramann Ertl – den Aufstieg trotz Rückzugsbefehls. „Nur weil die Männer im obersten Lager gehandelt haben, ist der Gipfel überhaupt möglich gewesen“, so Messner. Trotzdem sei Buhl bei der Rückkehr ins Basislager als „Meuterer“ empfangen worden. Denn Herligkoffer wollte den Ruhm als Organisator für sich selbst einheimsen: „In seinem Monopol als Expeditionsveranstalter hat er geglaubt, er könne auch das Thema Bergsteigen besetzen.“

„Schlüsselberg“ Nanga Parbat

Messners Karriere ist ebenfalls mit den Begriffen Nanga Parbat und Herligkoffer untrennbar verbunden. Der Arzt organisierte auch jene Expedition 1970, bei der Messner gemeinsam mit seinem Bruder Günther als Erster die Rupal-Wand, die mit über 4.500 Metern höchste Steilwand der Welt, durchstieg. Beim unfreiwilligen Abstieg auf der gegenüberliegenden Seite kam Günther Messner durch eine Lawine ums Leben. Die dramatischen Geschehnisse zogen zudem einen jahrelangen Gerichtsstreit über die wahren Umstände von Günthers Tod nach sich.

Reinhold Messner am Gipfel des Nanga Parbat, Alleingang 1978
Reinhold Messner
Auch in der Karriere von Messner, hier bei seinem Soloaufstieg 1978, spielte der Nanga Parbat eine große Rolle

25 Jahre nach Buhl schrieb Messner aber auf dem Nanga Parbat, den er selbst als seinen „Schlüsselberg“ bezeichnet, Geschichte. Als erster Mensch durchstieg der damals 34-Jährige 1978 einen Achttausender solo – vom Wandfuß bis zum Gipfel. Der Südtiroler, der so wie Buhl auf dem Nanga Parbat mehrere Zehen durch Erfrierungen verlor, wählte dabei den Aufstieg über die Diamir-Wand, jene Seite, über die auch heute noch die 1962 entdeckte Kinshofer-Route als Normalweg für den laut Messner „Massentourismus“ führt. Die Route von Buhl sei „zu schwierig und zu lange. Sie wurde seit Buhl erst zweimal geklettert.“

Alle Achttausender in 1950ern unmöglich

Eines hätte Buhl auch trotz seines bergsteigerischen Ausnahmetalents und unabhängig von seinem frühen Tod aber laut Messner sicher nicht geschafft: als erster Mensch auf allen 14 Gipfeln über 8.000 m Seehöhe zu stehen. „Das wäre zu seiner Zeit noch nicht denkbar gewesen. So wie es bei mir nicht denkbar gewesen wäre, alle 14 Achttausender in nur sechs Monaten zu besteigen, was jüngstens Nirmal Purja gelungen ist. Man darf es nie gegeneinander aufwiegen, jede Zeit hat ihre großen Könner“, so der Südtiroler mit Hinweis auf Ausrüstung sowie meteorologischer und wissenschaftlicher Unterstützung der heutigen Zeit.

Diane Messner und Reinhold Messner in der ORF-Sendung „Willkommen Österreich“
ORF/Roman Zach-Kiesling
Messner, hier mit seiner Frau Diane jüngst bei „Willkommen Österreich“, hält nichts von Vergleichen der Jahrzehnte

Schon zu seiner aktiven Zeit habe sich das Bergsteigen im Vergleich zu den 1950ern massiv verändert, so Messner gegenüber ORF.at – von den heutigen Voraussetzungen gar nicht zu sprechen. „Bei uns gab es schon die Möglichkeiten, die ganze Welt auszufliegen, Buhl musste noch mit dem Schiff nach Asien reisen“, erinnert der 78-Jährige, der sich auch später seine Expeditionen selbst finanzieren konnte. „Zu Buhls Zeiten hätte das der Staat oder ein Verein machen müssen.“ Aber: „Er hat für die damalige Zeit, mit den damaligen Mitteln etwas Unverwechselbares geleistet, er war oft der Erste.“

Buhl verschollen, Erinnerung lebt weiter

Darüber, wie viele Achttausender noch gefolgt wären, lässt sich nur spekulieren. Denn die Spur Buhls verliert sich am 27. Juni 1957 beim Abstieg von der 7.668 m hohen Chogolisa, nachdem der Tiroler und sein Partner Diemberger den Gipfelsturm nach einem Schneesturm abbrechen mussten, an einer Wechtenkante. „Dass er mit einer Wechte abgestürzt ist, ist eine Tragik, die leider viele Spitzenbergsteiger getroffen hat und trifft. Es reicht eine Unachtsamkeit oder Unkonzentriertheit, die auch den Besten das Leben kostet“, so Messner, der selbst mehrfach das Glück auf seiner Seite hatte.

Der Mythos Buhl ist für den Südtiroler jedenfalls auch unabhängig von Jahrestagen stets präsent. Vor allem dank der filmreifen Geschichte seiner legendärsten Erstbesteigung: „Ich glaube, der Nanga Parbat hält das Gedenken am Leben.“ In Innsbruck erinnert vor allem der Vorplatz der Bergstation der Hungerburgbahn, der 2012 nach ihm benannt wurde, an den berühmten Sohn.

Buhls auf dem Gipfel des „Nackten Berges“ zurückgelassener Pickel wurde 1999 von Japanern gefunden und später seiner Witwe Eugenie überreicht. 2019 übergab Buhls Tochter Kriemhild, die ihre Erinnerungen an den Vater in zwei Büchern niederschrieb, das Artefakt an Messner. Heute ist der Pickel im „Messner Mountain Museum Corones“ auf dem Südtiroler Kronplatz ausgestellt. Buhls Leichnam ruht hingegen bis heute irgendwo an der Chogolisa – rund 185 Kilometer von „seinem“ Nanga Parbat entfernt.