Pokal des William Webb Ellis Cup
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Rugby-WM

Ein „Märchen“ wird weiter hochgehalten

Am Freitag ist im Stade de France bei Paris mit einem 27:13-Erfolg von Gastgeber Frankreich über Rekordweltmeister Neuseeland zum zehnten Mal das Rennen um den Webb Ellis Cup für den Rugby-Weltmeister eröffnet worden. Ein doppeltes Jubiläum, denn vor 200 Jahren soll der Namensgeber des Pokals mit einer Unsportlichkeit das Spiel erfunden haben. Obwohl mehr Indizien gegen als für William Webb Ellis als Erfinder des Rugby-Spiels sprechen, wird das Andenken an den dreisten Schüler hochgehalten.

Dass die zehnte Weltmeisterschaft im Rugby und das 200-Jahre-Jubiläum des Gründungsmythos in Frankreich begangen werden, trifft sich perfekt. Denn in der südfranzösischen Stadt Menton, direkt am Mittelmeer und der Grenze zu Italien, ruht seit 1872 jener Mann, der von einem Moment auf den anderen eine neue Sportart auf der Taufe gehoben hat.

Anlässlich der WM rückt nicht nur das Grab von William Webb Ellis, sondern auch die Diskussion über seine angebliche Rolle in der Geschichte des Rugby-Sports in den Mittelpunkt. Im Herbst 1823 soll der damals 16-Jährige bei einem Fußballspiel an der renommierten Rugby School im gleichnamigen Ort in der englischen Grafschaft Warwickshire den Ball anstatt zu kicken mit den Händen gepackt und Richtung gegnerisches Tor getragen haben.

Das Rugby-Spiel war damit mit einem Knalleffekt geboren. 1845 wurden am gleichen Ort von drei Schülern die ersten Regeln für Rugby Football schriftlich festgehalten, 1895 die Geschichte von Webb Ellis von den „Old Rugbeians“ legitimiert. Seit der ersten WM 1987 trägt der Siegespokal den Namen des mythischen Gründers.

Legitimierung ohne Beweis

Der Webb Ellis Cup ist damit ein Unikat in der Welt des Sports, ist er doch nach einer Person bekannt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Entwicklung des Sports so gut wie gar nichts am Hut hatte. Schon die erste Erwähnung seiner Tat und seines Namens geschah 1876 – und damit über 50 Jahre nach dem angeblichen Vorfall und vier Jahre nach dem Tod des späteren Priesters im Süden Frankreichs. Matthew Bloxam, ein Historiker aus Rugby, schilderte in einem Brief an eine Schülerzeitung den wohl nur vermeintlich historischen Vorfall.

Statue von William Webb Ellis
ORF.at/Karl Huber
Dem vermeintlich berühmtesten Sohn der Stadt wurde vor der Rugby School auch ein Denkmal errichtet

Allerdings war Bloxam viel, nur in jener Zeit nicht dabei. Obwohl ein Zeitgenosse des mutmaßlichen Rugby-Erfinders berief sich der Historiker in seinem Schreiben auf den Freund seines Bruders. Nicht einmal auf einen genauen Zeitraum wollte sich Bloxam festlegen und schwankte anfangs zwischen den Jahren hin und her. Erst im Laufe der Zeit und nach der Legitimierung der Geschichte 1895 wurde 1823 als Jahr festgelegt. Einen Beweis oder eine Aufzeichnung über den Vorfall, der vor der WM 2015 in England für die Eröffnungsfeier nachgespielt wurde, konnte man aber auch da nicht finden.

Rugby Feld
ORF.at/Karl Huber
Auf diesem Feld soll sich vor 200 Jahren Sporthistorisches ereignet haben

„Lebensgefahr“ bei Regelbruch

Warum die Geschichte ohne Beweis und auch nach gegensätzlichen Aussagen über die Vorgänge im Fußball in Rugby als Wahrheit anerkannt wurde, wird seit jeher – und speziell vor jeder WM – heiß diskutiert. Der „Guardian“ brachte vor der WM 2019 die Geschichte eines der wenigen Zeitzeugen ins Spiel, der sich bei der Beweissuche der „Rugbeians“ 1895 zumindest an einen Schüler namens William Webb Ellis erinnern konnte. Laut eines gewissen Thomas Harris sei der fünf Jahre ältere Webb Ellis aber nur im Kricket aufgefallen – da aber als jemand, der es mit Regeln nicht so genau nahm.

Grafik zu den Spielorten der Rugby-WM 2023
Grafik: APA/ORF

Eines stellte Harris aber damals in einem Brief klar: Mit dem Ball in der Hand zu laufen war auch noch am Ende seiner Schulzeit „strikt verboten“. Angesichts der Tatsache, dass sich etwa 1839 in einem der wenigen aufgezeichneten Fußballspiele in der Rugby-Variante – wo der Ball mehr oder weniger nur hin und her gekickt wurde – 50 bzw. 200 Burschen gegenüberstanden, wäre eine Nichtbefolgung der Regeln wohl auch einem Suizid gleichgekommen. „Er hätte praktisch sein Leben in die Hand genommen“, meinte einst Tourguide Angus Gorden bei einer Führung durch die Rugby School gegenüber ORF.at.

Elitäre Abgrenzung als Grund

Der Grund, warum sich die Altherren der Rugby School 1895 dazu entschlossen, einen ihrer ehemaligen Schüler als Rugby-Erfinder zu erfinden, dürfte in der turbulenten Ära des Sports zu dieser Zeit begründet sein. Denn nachdem sich die Rugby-Variante und der heute „klassische“ Fußball bereits 1863 – u. a. aufgrund von unterschiedlichen Auffassungen in der Praxis des Beinstellens – getrennt hatten, spaltete sich auch der Rugby-Sport 1895 auf. Ein Streit um eine mögliche Bezahlung der Spieler führte zur Aufsplittung in das dem elitären Amateurstatus verhaftete Format Rugby Union und das mit 14 statt 15 Aktiven ausgetragene Rugby League.

Menton in Frankreich
IMAGO/PantherMedia/Paolo Gallo Moden
Menton, letzte Ruhestätte von Webb Ellis, wird während der WM den einen oder anderen Rugby-Touristen begrüßen dürfen

Die Vermutung liegt nahe, dass die Rugby School mit der Legitimierung des Webb-Ellis-„Märchens“ ihren Status als Geburtsort und „Eigentümer“ des Spiels bewahren wollte und sich so von den Profis des Rugby-League-Formats, das von bezahlten Arbeitern der Industriegebiete des Nordens geprägt war, abzugrenzen. Etwaiges elitäres Gehabe ist aber spätestens seit Mitte der 1990er Jahre obsolet. Denn seit bald 30 Jahren wird auch das „Fünfzehner-Rugby“ in den Topnationen von England über Südafrika bis Australien und Neuseeland ausschließlich von Profis betrieben.

Daher wünschen sich auch viele Beobachter regelmäßig vor Weltmeisterschaften auch eine Umbenennung des begehrtesten Pokals des Rugby-Universums. „Guardian“-Kolumnist und Buchautor Michael Aylwin forderte bereits vor vier Jahren, die Trophäe nach einer anderen Legende des Spiels zu benennen. „Nennt ihn Jonah Lomu Cup“, schlug der Journalist die 2015 im Alter von 40 Jahren verstorbene neuseeländische Legende als neuen Namensgeber vor: „Das wäre jedenfalls jemand, der definitiv mit dem Ball in der Hand gelaufen ist.“ Für die „All Blacks“ bei Weltmeisterschaften gleich 15-mal ins Malfeld – eine sonst nur vom Südafrikaner Bryan Habana erreichte Marke.

Chronologischer Spielplan Gruppenphase

Freitag, 8. September:
Frankreich Neuseeland Saint-Denis 27:13
Samstag, 9. September:
Italien Namibia St. Etienne 52:8
Irland Rumänien Bordeaux 82:8
Australien Georgien Saint-Denis 35:15
England Argentinien Marseille 27:10
Sonntag, 10. September:
Japan Chile Toulouse 42:12
Südafrika Schottland Marseille 18:3
Wales Fidschi Bordeaux 32:26
Donnerstag, 14. September:
Frankreich Uruguay Lille 27:12
Freitag, 15. September:
Neuseeland Namibia Toulouse 71:3
Samstag, 16. September:
Samoa Chile Bordeaux 43:10
Wales Portugal Nizza 28:8
Irland Tonga Nantes 59:16
Sonntag, 17. September:
Südafrika Rumänien Bordeaux 76:0
Fidschi Australien St. Etienne 22:15
England Japan Nizza 34:12
Mittwoch, 20. September:
Italien Uruguay Nizza 38:17
Donnerstag, 21. September:
Frankreich Namibia Marseille 96:0
Freitag, 22. September:
Argentinien Samoa St. Etienne 19:10
Samstag, 23. September:
Georgien Portugal Toulouse 18:18
England Chile Lille 71:0
Irland Südafrika Saint-Denis 13:8
Sonntag, 24. September:
Schottland Tonga Nizza 45:17
Wales Australien Lyon 40:6
Mittwoch, 27. September:
Uruguay Namibia Lyon 36:26
Donnerstag, 28. September:
Japan Samoa Toulouse 28:22
Freitag, 29. September:
Neuseeland Italien Lyon 96:17
Samstag, 30. September:
Argentinien Chile Nantes 59:5
Fidschi Georgien Bordeaux 17:12
Schottland Rumänien Lille 84:0
Sonntag, 1. Oktober:
Australien Portugal St. Etienne 34:14
Südafrika Tonga Marseille 49:18
Donnerstag, 5. Oktober:
Neuseeland Uruguay Lyon 73:0
Freitag, 6. Oktober:
Frankreich Italien Lyon 60:7
Samstag, 7. Oktober:
Wales Georgien Nantes 43:19
England Samoa Lille 18:17
Irland Schottland Saint-Denis 36:14
Sonntag, 8. Oktober:
Argentinien Japan Nantes 39:27
Tonga Rumänien Lille 45:24
Portugal Fidschi Toulouse 24:23